Vom Verschwinden des Paradekissens

Geht es Ihnen nicht auch manchmal so, dass Sie mitten im Gang durch die Stadt oder wo auch immer, innehalten und sich verstört die Augen reiben? »War da nicht noch was?«, fragen Sie sich. »Fehlt da nicht etwas?« - Und tatsächlich, der Kaugummiautomat an der Hauswand ist verschwunden; auch das kleine Café an der Ecke war eben noch da und ist plötzlich weg, die Bäckerei in der Nebenstraße oder der Trimm-Dich-Pfad im Gonsenheimer Wald, von der Postfiliale und dem Tante-Emma-Laden ganz zu schweigen.
Gewiss Dinge verschwinden, das ist nun mal ihr Lauf. Kommentarlos nehmen wir das hin. Ja, es fällt uns oft nicht auf. - Warum eigentlich? - Obwohl uns derzeit so viele Dinge abhanden kommen. Man denke an die Glühbirne, den Wühltisch. Wer erinnert sich noch an die Trockenhaube, den Monokassettenrekorder, die Klopapierrolle im gehäkelten Schutzüberzug auf der Hutablage im Auto, den Wackeldackel ebendort, das Einkaufsnetz und natürlich die ganze DDR? Einiges existiert auch heute noch, wenn auch bisweilen in modifizierter Form. Manches ist aber für immer verloren. Wer kennt denn noch das Paradekissen? Das prächtige, spitzenbedeckte Kissen, das mitten im groß- oder urgroßelterlichen Bett hinter dem hochgetürmten Plumeau auf dem eigentlichen Kopfkissen prunkte? Man bekam es nur selten zu sehen, weil das großelterliche Schlafzimmer eine Tabuzone oder, wie man heute dazu sagt, eine No-go-Area war. Wenn man es aber dennoch zu Gesicht bekam, fragte man sich, wozu dieses pompöse Ding, das kaum kleiner als man selbst war, denn eigentlich gut sei, denn darauf geschlafen wurde sicherlich nicht.
Besonders jetzt in der Adventszeit, wenn die Zurückversetzung in Kindertage im Schwange ist, springen uns die verlorenen Dinge hie und da ins Bewusstsein und wir beginnen uns tiefergehende Gedanken zu machen. Was hat das Verschwinden der Gartenzwerge nicht alles für Rätsel aufgegeben. Dann bleiben wir auch an solchen Dingen wie dem Paradekissen hängen. Dabei geht es uns eigentlich gar nicht um die Dinge selbst, sondern um die Erinnerungen, die damit verknüpft sind: der Kuss hinter der Ado-Gardine (die mit dem Goldrand), das glückliche Händchen am Kaugummiautomat, das intime Liebesgeflüster im muffigen Telefonhäuschen und der verbotene Blick auf das kunstvolle Arrangement des großelterlichen Bettes. Mit wohliger Wehmut stellen wir dann fest, dass mit dem Verschwinden der Dinge auch gewohnte Handlungsabläufe, Rhythmen und Gesten für immer verloren sind wie etwa der Handkantenhieb, der einen scharfen Knick in der Mitte des Paradekissens erzeugte, womit Großmutter zeigte, dass sie eine gute Hausfrau war. 

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