A Gutjse uff em Backe

Die Sprache sei dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen, bemerkte einst der Franzose Talleyrand gegenüber dem spanischen Botschafter. Als Staatsmann und Wendehals wusste er wohl, wovon er sprach. Sprache kann beschwichtigen und verschleiern. Mit ihr lässt sich Unschönes mit schönen Worten ausdrücken. Man denke an so wohlklingende Ausdrücke wie Entsorgungspark, sozialverträgliches Frühableben, Freistellung oder Minuswachstum. Euphemistische Wortschöpfungen dienen aber nicht einfach nur der Beschönigung und Verhüllung von Aspekten, die als negativ empfunden werden, sondern sie enthalten auch Elemente der bewussten Täuschung. Kein Wunder also, dass sie bei Politkern beliebt sind, wie überhaupt bei Entscheidern jeder Art, wenn aus Motiven wie Profilierungs- und Profitdenken die eigenen Interessen ohne Gesichtsverlust durchgesetzt werden sollen; sicher auch um das schlechte Gewissen zu beruhigen.
SCHWALLJEE

                                         ©  
Karin-Anne Beckers
 Eine herausragende Stellung nehmen Fremdwörter ein: Zum einen, weil sich mancher über ihre Bedeutung nicht im Klaren ist. Auf diese Weise wird eine künstliche Undurchsichtigkeit erzeugt. Zum anderen, weil sie als elegante Variante des entsprechenden deutschen Ausdrucks gelten wie z. B. Seniorenresidenz, Pazifikation und Flexibilität. Unter dem Einfluss des globalisierten Englisch besonders des Business-English wird fast alles Unangenehme zu verschleiern versucht und das Alltägliche herausgeputzt. Outsourcing und Lean Production kaschieren Entlassungen, die Payback Card erweckt den Anschein, als würde einem etwas rückerstattet, Personal-Controlling ist nichts anderes als Mitarbeiterkontrolle, Social Engineering Bespitzelung und Productplacement Schleichwerbung. Als Marketingexperte in eigener Sache stellt man etwas in die Pipeline, wenn man etwas auf den Weg bringen möchte und rennt von einem Meeting zum anderen. Mit einer solchen Beeindruckungsrhetorik wird selbst das Gewöhnliche aufgewertet: die schnöde Steckdose wird zum Power Point, der Hausmeister zum Facility Manager und der Lehrling zum Trainee, dem dadurch zusätzliche Career-Options eröffnet zu sein scheinen. Kein erwachsener Mensch käme wohl auf die Idee, mit einem Kinderroller durch die Stadt zu fahren, wenn man diesen nicht Kickboard nennen würde. Alter Wein in neuen Schläuchen findet man auch in der Mitarbeiterführung. So ist das Management by walking around nichts anderes als der gute, alte Chefrundgang und das Management by Delegation nichts als die Vertuschung von Entscheidungsschwäche.
SCHWOLLESCHEE 

                   ©  Karin-Anne Beckers
Diesen hochtrabenden Täuschungsversuchen ist nur noch der Dialekt gewachsen, der als regionale Antwort auf die gleichmacherische Globalisierung in jüngster Zeit eine erstaunliche Dynamik entwickelt. Im Gegensatz zur Hochsprache erlaubt die Mundart mehr Lässigkeit und mehr Emotionen. Was immer wieder überrascht, ist ihr respektloser und antipathetischer Umgang mit inhaltslosen Redefloskeln, die gewichtig daher kommen und gescheit wirken wollen.
 »Mer losse uns kää Gutsje uff de Backe mole«, heißt es in Mainz. Wie einfallsreich und entlarvend der Mainzer Dialekt sein kann, zeigt sich in der Übernahme französischer Ausdrücke vor allem in der Zeit zwischen 1797 und 1814, in der Mainz und Rheinhessen als Département Mont Tonnere dem französischen Staatsgebiet einverleibt war. Während die meisten so genannten Gallizismen in der Hochsprache im Schrift- und Lautbild unverändert geblieben sind, wurden sie der Mundart zunächst einmal durch eine Lautverschiebung angepasst wie etwa Wisawi (frz. vis à vis = gegenüber), pee a pee (frz. peu á peu = Stück für Stück), Kurasch (frz. courage = Mut), Bulwerschmaa (frz. bouleversement = Durcheinander) oder dischbediere (frz. disputer = streiten). Schon allein der neue Klang verleiht den durchaus vornehm klingenden französischen Ausdrücken etwas Derbes und Deftiges. Ja, man könnte sogar sagen, der Mainzer wie auch der Rheinhesse macht sich über sie lustig und reißt damit den Besatzern die Maske vom Gesicht.
DEPPEDDE

©  Karin-Anne Beckers
Es ist sicher nur die halbe Wahrheit, dass den Menschen, die zur Franzosenzeit überwiegend in einfachen Verhältnissen lebten, eine korrekte Aussprache des Französischen nur schwer möglich gewesen sei. Man unterschätzt dabei die subversive und karikierende Kraft der Volkskultur. Betrachtet man die französischen Lehnwörter aus dem Bereich der Politik, Verwaltung und Justiz, die auf den Alltag angewandt wurden, dann wird das Renitente und Entlarvende der Mundart klar. Was die Mainzer generell von der französischen Republik hielten, die ab 1799 unter Napoleon allmählich zu einem halbdikatorischen Regime mit plebiszitären Elementen mutierte, zeigt sich wie in einem Brennglas in der Bedeutungsverschiebung von le fagot, dem Reisigbündel und bedeutenden Symbol der frisch errungenen Volkssouveränität, zu dem Mainzer Begriff Fachot für Sprüchmacher. Dementsprechend wurde der Procureur de l’état (der Oberstaatsanwalt) als Staatsproggerader und der Chevalier (der Ritter der Ehrenlegion) als Schwalljee zur Bezeichnung eines Schwätzers und Angebers, der Deputé (der Abgeordnet) als Deppedde zu einem Depp und die Chevau-légers (die Soldaten der leichten Kavallerie) als Schwolleschee zu Lackaffen. In dieser Linie steht auch die Briambel (frz. le préambule = Vorrede) für weitläufiges Geschwätz. Welche Rolle die Mainzer dem vornapoleonischen Souverän, dem Volk (frz. le peuple) zuwiesen, lässt sich in dem Verb aappeewele (jemanden durch freche, unflätige Worte provozieren) nur noch erahnen. 
»Da is kei Wort französisch«, sagt der Mainzer und meint damit im übertragenen Sinne, dass hier nichts beschönigt wird. Hoffentlich behält er recht!


Abdruck in: Mainzer Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft und Geschichte 2/11, S. 4ff. www.mainz-hefte.de 

Mainz – die Kaderschmiede. Eine Spurführung

Sind Sie neugierig, und schauen gerne hinter die Dinge?  – Nun dann verfügen Sie sicher auch über eine ausgeprägte Beobachtungsgabe. Sie waren auch gewiss schon einmal auf einem Maskenball? Dann ist Ihnen im wilden Durcheinander ohne Zweifel nicht entgangen, dass selbst das schlichteste Kostüm, das seinen Träger eigentlich verbergen sollte, nichts anderes tut, als ihn – im Gegenteil – zu verraten. Wer sich maskiert, kehrt sein Innerstes nach außen, seine geheimsten Wünsche und Hoffnungen, seine Bedürfnisse und Leidenschaften, seinen Drang nach Aufmerksamkeit wie auch nach Anpassung, kurzum der ganze Mensch steckt in der Maske.
Was für den Einzelnen gilt, gilt auch für eine ganze Stadt. Gerade hinter der Maske offenbart sie ihr wahres Gesicht. Womit wir bei der Mainzer Fastnacht wären. In den unterschiedlichsten Handlungen und Ereignissen, die sich zu einem ausgelassenen und bunten Treiben verknüpfen, stülpt sie eine ganze Maske über Jung und Alt. Kein Mainzer kann sich dem entziehen. Die Fastnacht drückt ihm ihren Stempel auf und webt sich Jahr für Jahr in seine Denk- und Lebensart hinein.
Was aber verrät sie über den Mainzer an sich? Zunächst einmal, dass er ein einfallsreiches und erfinderisches Wesen ist; er ist kreativ, wie man im Marketingdeutschen so schön sagt, was während der Fastnacht aber kein bloßes Lippenbekenntnis ist. Denn er muss aus einer unendlichen Vielzahl an Möglichkeiten ein Kostüm auswählen oder zusammenbasteln, das seinen Anforderungen und Wünschen entspricht, wenn er nicht gerade zu einer Garde oder einem Fastnachtsverein gehört. Nicht selten kommt es dabei zu kuriosen Entscheidungen: Da verwandelt sich der brave Biedermann plötzlich in einen Schurken, der Umweltsünder in eine zarte Blume, der Harz-IV-Empfänger in einen Firmenboss und der Prüde in einen ungenierten Frauenheld. Männer werden zu Frauen und Frauen zu Männern. Das macht den Mainzer mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Denk- und Verhaltensmustern vertraut und erlaubt ihm die Einnahme eines Standpunktes jenseits des gewöhnlichen Lebens und gelegentlich auch jenseits der Logik. Darüber hinaus übt es ihn ein in Flexibilität und Toleranz.
Damit aber nicht genug: Die Fastnacht weist ihn obendrein als ausgesprochenes Zoon politikon aus. Denken wir an die Fastnachtsitzungen – wahre Schulen der Demokratie. Natürlich auch die Fastnachtsumzüge. Mit ihren Fahnen und Figuren, ihren Parolen und Symbolen gleichen sie politischen Demonstrationen und Massenkundgebungen. Hinter der Maske des Narren nimmt der Mainzer kein Blatt vor den Mund. In den Fastnachtssitzungen, die Parlamentsdebatten und Gerichtsverhandlungen parodieren, übt er sich darin, coram publico große Reden zu schwingen, ohne auch nur einzige Pointe auszulassen. Ja, der Mainzer ist redegewandt. Da fällt es nicht ins Gewicht, wenn seine Rede mit vernachlässigenswerten Obszönitäten gespickt ist, selbst in der Gestik, was ein klein wenig an den Südländer erinnert. Das Pathos ist dem Mainzer ebenso fremd wie die verdruckste Betroffenheit. In der Bütt legt er den Finger in die Wunde und nimmt jegliche Missstände aufs Korn, besonders aber die kleinen menschlichen Schwächen, über deren Verspottung er häufig sogar sein ewigwährendes Lamento über die hohen Steuern und die große Politik vergisst. 
© Karin -Anne Beckers
All das spiegelt sich auch in der besonderen Art seines Humors wider, den der Mainzer sich von Kampagne zu Kampagne antrainiert hat, und der von Fremden mitunter als sehr daneben, aber als äußerst lustig wahrgenommen wird. Wodurch er seinem Leben ungeachtet aller Erschwernisse und Erschütterungen komische Seiten abgewinnen und den kleinen und großen Katastrophen des Alltags mit einem Lachen begegnen kann. Sein Lachen gibt ihm die Gewissheit, jede nur erdenkliche Situation, sei es eine Finanz- oder Wirtschaftskrise, bewältigen zu können, indem es das Schreckliche herabmindert.
Der Mainzer lacht an Fastnacht über alles, besonders aber über das Hochstehende, das Ideelle und Abstrakte, er holt es damit herunter in den Bereich des Banalen. Für große revolutionäre Ideen ist er daher nicht zu begeistern. »Dess sinn doch alles Färz!«, wird er hierauf lapidar entgegnen, oder einfach nur »Kokolores«. Für Nichtmainzer werden solche Kommentare immer wieder als Zeichen seiner Behäbigkeit und Unfreundlichkeit gedeutet, obwohl sie eigentlich nichts anderes als Bodenständigkeit zum Ausdruck bringen wollen, die Dinge und sich selbst nicht immer allzu ernst zu nehmen. Das Lachen macht seinen Kopf frei, nimmt ihm den Druck und lässt ihn in Gleichmut der Dinge harren, die da kommen werden. «Heile, heile Gänsje. Es wird bald widder gut…« 
Der Mainzer lacht an Fastnacht aber nicht allein, sondern mit jedem, der auch nur in seine Nähe kommt. Fastnacht ist das Fest der Entgrenzung und der Integration. Was allein schon die Frage, »Wolle mer se roilosse« zum Ausdruck bringt, die bislang wahrscheinlich noch nie mit einem »Nein« beantwortet wurde. Im alkoholgeschwängerten Dunst der vielen Leiber gibt es keine Schranken und Hierarchien mehr, die Distanz ist aufgehoben. Singend, tanzend und klatschend hört der Mainzer auf, er selbst zu sein, um zu einem untrennbaren Teil des Ganzen zu werden, wenn auch manchmal nur für einige Sekunden. Dieses ekstatische Erlebnis festigt das Zusammengehörigkeitsgefühl auch außerhalb der Fastnacht und gebiert den typisch Mainzer Teamgeist, wie er sich etwa in der Fankultur von Mainz05 zeigt, wo es immer wieder zu neuem Leben erweckt wird. Nicht umsonst skandieren die Fans: »Wir sind nur ein Karnevalsverein!« Der Mainzer Fußball ist damit sozusagen die Fortsetzung der Fastnacht mit anderen Mitteln.
Und so können wir beinahe endlos fortfahren. Klar wird schon jetzt, dass dieser periodisch wiederkehrende Exzess Eigenschaften hervorbringt, die den Mainzer zu höheren Weihen befähigt, und zwar nicht nur im Fußball.
Die Gleichartigkeit von Politik und Fastnacht liegt auf der Hand. Beides durchdringt sich sogar. Allerdings bislang nur auf lokaler Ebene. Der Mainzer bleibt hier weit hinter seinen Fähigkeiten zurück. Was hindert ihn daran, Kanzler oder Präsident zu werden? Dank der Fastnacht ist er redegewandt, sitzungs- und gremienerfahren, er verfügt über Krisenbewältigungskompetenz, er kann organisieren, mobilisieren und nicht zuletzt Seilschaften knüpfen. Und soll einer sagen, er hätte keine Ausstrahlung! Man braucht sich nur die Fernsehsitzung anzusehen. Wie es hier funkelt und blitzt. Und dann die Einschaltquote! Viel höher als bei jeder Haushaltsdebatte im Bundestag.
Die Krisenbewältigungskompetenz, die der Mainzer in seinem Lachen unter Beweis stellt, ist nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft sehr gefragt. Das gilt ebenso für seine Kreativität, seine Flexibilität, seine Team- und Integrationsfähigkeit und Eigeninitiative. Alles Fähigkeiten, über die Führungskräfte verfügen sollen, und die durch teure Managementtrainings eingeübt werden, sei es, dass sich die High Potentials, wie man die Anwärter auf Führungspositionen nennt, einen Berg hinunterstürzen, oder einen Eierlauf absolvieren. Angesichts dieses Unfugs ist man leicht versucht zu sagen: Ja, dann schickt sie doch zur Mainzer Fastnacht ins Trainingscamp. Das ist billiger und allseits bewährt. Oder rekrutiert eure Führungskräfte doch gleich alle aus Mainz. In diesem Sinne ein dreifach donnerndes Helau! 

Abdruck in: Mainzer Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft und Geschichte 1/11, S. 5ff. www.mainz-hefte.de