Das Gedächtnis einer Stadt. Das heikle Widerspiel zwischen Müllhalde und Stadtarchiv

Geht es Ihnen nicht auch manchmal so, dass sie mitten im Gang durch die Stadt, oder wo auch immer, innehalten und sich verstört die Augen reiben? »War da nicht was?«, fragen Sie sich. »Fehlt da nicht etwas?« - Und tatsächlich: Der Kaugummiautomat an der Hauswand ist verschwunden; auch die Telefonzelle war eben noch da und ist plötzlich weg, die Bäckerei in der Nebenstraße oder der Trimm-Dich-Pfad im Gonsenheimer Wald, von der Postfiliale und dem Tante-Emma-Laden ganz zu schweigen.
Dinge verschwinden. Das ist nun einmal ihr Lauf. Und mit den Dingen gehen auch gewohnte Gedanken, Handlungsabläufe, Rhythmen und Gesten für immer verloren. Kommentarlos nehmen wir das hin. Ja, es fällt uns oft gar nicht auf. Obwohl uns derzeit so viele Dinge abhanden kommen. Man denke an die Schreibmaschine, die Trockenhaube, den Monokassettenrekorder, das Einkaufsnetz, die Klopapierrolle im gehäkelten Schutzüberzug auf der Hutablage im Auto und natürlich den Wackeldackel ebendort. Manches existiert noch heute, wenn auch in modifizierter Form. Vieles, was unsere Aufmerksamkeit und unser Interesse verloren, was sich abgenutzt hat oder zerstört wurde, ist zu Abfall geworden und auf der Mülldeponie gelandet. Einiges aber wurde aussortiert und Museen und Archiven zugeführt, um es dem Vergessen zu entreißen. Diese manchmal riesigen Archen, welche die Welt konservieren, die uns entgleitet, können als umgekehrtes Spiegelbild zu Mülldeponien begriffen werden. Die Grenze ist fließend. Verlust und Bewahrung liegen nahe beieinander. Damit der Abfall aber überhaupt die Chance eines Nachlebens hat, muss er über die Eigenschaft von Überresten verfügen, die dem Zahn der Zeit durch ihre Robustheit widerstehen.
Bei der Bewahrung kommt den öffentlichen Archiven wie etwa dem Mainzer Stadtarchiv eine besondere Rolle zu. Sie sammeln und erhalten neben Urkunden, Amtsbüchern und Akten der Vergangenheit, Dokumente aller Art, die bei staatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen wie Verbänden, Betrieben oder Privatpersonen entstehen, darunter nicht nur Schriftgut, sondern mittlerweile auch Bild- und Tonmaterial. Einen immer größeren Stellenwert nimmt dabei die Konservierung digitaler Daten ein. Das gesicherte und verzeichnete Archivgut wird dann, nach Ablauf gesetzlich verankerter Sperrfristen der Öffentlichkeit zur Benutzung und zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt.
Das Archiv bildet sozusagen das Gedächtnis eines Gemeinwesens und bestimmt auch dessen Identität. Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden neben den vielen Dingen des Alltags auch ihr Gedächtnis verlieren, dann wüssten Sie nicht mehr, wer Sie sind und wo sie hingehören. Jede Veränderung eines Archivs hat Auswirkungen auf das Gemeinwesen und umgekehrt. Denken Sie an den Untergang der DDR und des damit verbundenen Bedeutungswandels des Stasi-Archivs, das jetzt nicht mehr der Unterdrückung, sondern der Aufklärung dient. Ähnlich war es mit den Archiven in der Französischen Revolution. Das gilt auch für das Archiv einer Stadt wie Mainz.
Wie das Gedächtnis oszilliert das Archiv zwischen Erinnern und Vergessen bzw. Verlust und Bewahrung. Für Verlust steht die »Kassation«, wie die Vernichtung von Archivbeständen in der Archivarsprache heißt, die aus Platzmangel von Zeit von Zeit vorgenommen werden muss. Die Aussonderungsprinzipien und Wertmaßstäbe, nach denen sie erfolgt, sind je nach Epoche variabel und werden nicht unbedingt von den späteren Generationen geteilt. Was in der einen Epoche als Abfall betrachtet wird und auf die Müllhalde kommt, kann in einer anderen Zeit als wertvolle Information behandelt werden. Behalten werden diejenigen Bestände, die man gerade als zukunftsrelevant erachtet, damit auch künftige Generationen auf der Erfahrung aus Jahrhunderten ihre Gegenwart begreifen und ihre Zukunft gestalten können.
»Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft«, heißt es in George Orwells berühmtem Roman »1984«. Also achten wir darauf, wie die Mainzer Stadtväter mit dem Stadtarchiv und auch der Stadtbibliothek, die einen Schatz bedeutender historischer Schriften und Bücher birgt, im Zuge der geplanten Umstrukturierungsmaßnahmen umgehen. Der Weg zur Müllhalde ist ja nicht sehr weit. Schon allein der Gedanke an Struktur- und Personalkürzungen spricht der Stadt Gutenbergs Hohn. Erinnert sei auch an den Autor und leidenschaftlichen Sammler Walter Kempowski, der einmal anmerkte, dass man die Kultur eines Volkes nicht zuletzt an seinen Archiven zu messen habe. Das lässt sich auch sehr schön auf Mainz übertragen … 


Abdruck in: Mainzer Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft und Geschichte 1/12. www.mainz-hefte.de