Der schöne Schein. Der Weihnachtsmarkt - ein Ort der Illusion?

Was hat es mit dem weihnachtlichen Gefühl auf sich, dem Gefühl von Harmonie und Geborgenheit, das in uns geweckt wird, sobald wir einen Weihnachtsmarkt betreten, obwohl wir im geschäftigen Treiben, dem Gedrängel, Gestoße und Geschiebe besonders um die Glühlweinstände herum nicht die geringste Spur von Harmonie finden? Hat es vielleicht etwas mit früheren Erlebnissen auf einem Weihnachtsmarkt zu tun, die wir als harmonisch abgespeichert haben? Das Gedächtnis schlägt einem manchmal ja ein Schnippchen. Es ist kein statischer Aktenordner oder ein verstaubendes Archiv. So erscheinen Erinnerungen an frühere Zeiten - zumal bei älteren Menschen - in immer rosigeren Farben. Da waren die Ferien schöner, die Menschen freundlicher, die Winter weißer und die Feste ausgelassener. In dieser allgemeinen Verklärung hat man sich selbst auch als glücklicher in Erinnerung, obgleich die Vergangenheit bei objektiver Betrachtung meist keineswegs so heiter, problemlos und beglückend war. Umgekehrt ist es bei schwermütigen Menschen.
© Christian Kohl 
Erinnerungen sind oft nicht steuerbar, sie entstehen aus dem Augenblick heraus. Das wohl berühmteste Beispiel stammt aus Marcel Prousts Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, in dem das Aroma eines in Lindenblütentee getauchten muschelförmigen Gebäcks namens Petite Madeleine plötzlich einen Schwall von Kindheitserinnerungen auslöst und damit den Roman in Gang setzt. Ähnlich ergeht es uns beim Duft von gebrannten Mandeln, gerösteten Maronen, Zimt, Nelken und Zuckerwerk jeder Art, wenn wir über den mittelalterlich anmutenden Weihnachtsmarkt schlendern. Wir fühlen uns in einen von allen Spannungen befreiten Raum in unserer Kindheit zurückversetzt, in eine glitzernde Märchenwelt, die es aber nie gab. Denn unser Gedächtnis ist so anschmiegsam, dass wir vieles einfügen können, was wir gar nicht erlebt haben, etwa Szenen aus Weihnachtsmärchen, Werbefilmen oder Weihnachtsfilmen der Disney-Traumfabrik, in der die Menschen stets gut zueinander sind. Das geschieht bei jedem von uns zwar auf unterschiedliche Art und Weise, kann aber dennoch zu einer einheitlichen Wirkung führen, in diesem Fall also ein diffuses Gefühl von Harmonie und Geborgenheit erzeugen, das von vielen Menschen geteilt wird, obwohl es jeglicher Grundlage entbehrt.
Man kann also von dem Weihnachtsmarkt als einem Ort leerer oder zumindest erlebnisarmer Erinnerungen sprechen, einem Ort der Illusion. Es ist wie bei den beliebten Volksmusiksendungen, in denen Sänger in Trachtenkleidern vor einem künstlichen Bergpanorama schlagermäßig aufbereitete Volkslieder zum Besten geben, um das Verlangen der Zuschauer nach Geborgenheit zu befriedigen. Die Illusion wird hier wie dort durch die vielen Kitschgegenstände noch verstärkt, die gleichsam Versatzstücke einer auf Gefühlsduselei ausgelegten Inszenierung sind. Auf dem Weihnachtsmarkt sind es etwa Handtücher mit Engelsbildern, Fensterbilder, Keramikwaren mit Aufdrucken der Weihnachtsgeschichte, also Gegenstände, die einem profanen Zweck dienen, aber primär ein religiöses Motiv darstellen oder mit einem religiösen Motiv geschmückt sind und es herabwürdigen, oder reine Dekorationselemente, die entweder als romantische Geschenkideen angepriesen werden, wie Christbaumschmuck und Kerzen, oder den Weihnachtsmarkt selbst schmücken, wie die Lichterketten, die in ihrer Gesamtheit einem Zelt nachempfunden sind, um einen beschirmenden Sternenhimmel zu imitieren.
Der Hang nach dieser helfenden Illusion stellt aber nichts Verwerfliches dar. Die Flucht aus der komplexen und komplizierten Wirklichkeit ist verständlich und das Kitschbegehren, das die Illusion von Harmonie und damit das Weihnachtsgefühl nährt, nahe liegend. Es gilt der Satz von Hundertwasser: »Die Abwesenheit von Kitsch macht unser Leben unerträglich.«


Abdruck in: Mainzer Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft und Geschichte 4/11, S. 5ff. www.mainz-hefte.de 

Der Kaiser ist nackt

Unschönes lässt sich oft mit schönen Worten ausdrücken. Man denke an so wohlklingende Ausdrücke wie »Entsorgungspark«, »sozialverträgliches Frühableben«, »Freistellung« oder »Minuswachstum«. Kein Wunder also, dass diese Ausdrücke bei Politikern beliebt sind, wie überhaupt bei Entscheidern jeder Art, wenn aus Motiven wie Profilierungs- und Profitdenken die eigenen Interessen ohne Gesichtsverlust durchgesetzt werden sollen; sicher auch um das schlechte Gewissen zu beruhigen. Zu diesen Ausdrücken gehört auch das schönes Wörtchen »Synergieeffekt«, das meist im Plural verwendet wird, wenn von Fusionen, Übernahmen und Schließungen die Rede ist.
© Christian Kohl
Damit Sie mich nicht falsch verstehen, ich habe nichts gegen Synergieeffekte, schließlich ist es ja gut, wenn man sich durch Zusammenarbeit gegenseitig stabilisiert oder wenn durch den Zusammenschluss zweier Firmen ein neues Unternehmen entsteht, das mehr leistet als die Summe beider Organisationen. Ich habe nur etwas gegen den falschen Gebrauch des Wortes, etwa wenn eine Organisation aus Kostengründen oder zum Nutzen der anderen zerschlagen wird. Das wäre dann nichts anderes als Demontage. Hierzu ein aktuelles Beispiel aus der Mainzer Politik: Im Rahmen der Sparmaßnahmen erwägen die Stadtväter, die Mainzer Stadtbibliothek zu schließen und die Bestände auf drei Standorte zu verteilen. Demnach käme das Stadtarchiv und Altbestände der Wissenschaftlichen Bibliothek in eine der künftig leer stehenden Grund- oder Hauptschulen, alte Handschriften etwa oder Inkunabeln ins Gutenberg-Museum und der Restbestand in die Universitätsbibliothek. Begründet wird diese Zerschlagung, denn um nichts anderes handelt es sich hier, mit jährlichen Einsparungen zwischen 1 Million und 1,5 Millionen Euro und den durch die Zusammenlegung von Stadt- und Universitätsbibliothek entstehenden Synergieeffekten. Wie aber kann man hier von Synergieeffekten sprechen, wenn es die Stadtbibliothek nicht mehr gibt und wenn  ihr Bestand, der eingefroren werden soll, in der Universitätsbibliothek aufgeht? Ist das nicht Täuschung?
Synergieeffekte könnte man erzielen, wenn man die Bibliothek beispielsweise optimal an das öffentliche Verkehrsnetz anbinden oder mit der Volkshochschule zusammenlegen würde, um etwa die Besucherfrequenz zu steigern. Das spült Geld in alle Kassen. Aber soweit denken manche Stadtväter ja nicht. Der Gestaltungswille geht ihnen leider völlig ab, auch der Sinn für Kultur und Bildung, von Tradition und Geschichte gar nicht zu sprechen. Stattdessen aalen sie sich lieber in wohlklingenden Worthülsen und schmücken ihre Stadt mit Titeln wie »Stadt des Buches« oder »Stadt der Wissenschaften«, die sich bei einer solchen Politik als publikumswirksame Placebos entpuppen. Man fühlt sich an Hans Christian Andersens Märchen »Des Kaisers neue Kleider« erinnert. Der Kaiser ist nackt.