Hase und Igel


Man hat Zeit - gewiss ein sehr rares Gut - und schlendert ganz gemütlich und ohne Ziel durch die Einkaufsstraßen unserer Stadt, als habe man gerade die Langsamkeit entdeckt. Um einen herum nichts anderes als hektische Betriebsamkeit. Alles hechte und hetzt von Geschäft zu Geschäft, von Termin zu Termin oder gerade dem Bus hinterher. Besonders augenfällig in all dem Gehetze sind die Menschen, die an einem Papierkaffeebecher mit einem kleinen Loch im Plastikdeckel nuckelnd durch die Gegend rennen, als hätten sämtliche Mainzer Cafés geschlossen. Coffee-to-go nennt man dieses nicht mehr ganz so neuartige Phänomen, worüber in letzter Zeit so viel berichtet wird. Kein anderes Alltagsding, wie dieser Papierkaffeebecher, so heißt es, symbolisiere die Widersprüche des modernen Menschen besser. Denn er stehe für das Verlangen nach Muße, befriedigt im Vorüberhasten, kurzum für unser Verhältnis zur Zeit. Zeit, so lautet die Devise, muss gespart werden, aber auf eine sanfte und entspannende Art, wie beim Coffee-to-go, also, um das Ding beim Namen zu nennen, wie beim aushäusigen Kaffeetrinken aus schnöden Pappbechern. Doch wer Zeit spart, müsste doch, so fragt man sich zwischen all den Kaffee schlürfenden Unrasten (ein altertümlicher, aber doch so treffender Begriff für den ruhelosen und getriebenen Menschen), bestimmte Rücklagen gebildet haben, müsste also an anderer Stelle über genügend Zeit verfügen? Was machen diese Unraste eigentlich, so fragt man sich weiter, mit der aufwändig eingesparten Zeit? Die Frage lässt sich für einen Flaneur und guten Beobachter leicht beantworten: Sie setzen sie ein, um noch mehr Zeit zu sparen. Daher müssen die Autos schneller fahren, die Schweine und Hühner schneller wachsen … Und der Mensch? Er muss immer jünger, aktiver, flexibler und natürlich auch schneller werden. Die Unraste sparen also nicht, um mehr, sondern um noch weniger Zeit zu haben. Es ist wie bei der Fabel vom Hase und Igel. Sie laufen und laufen holen die Zeit niemals ein.
Als Flaneur kann man jetzt den Kopf selbstgerecht lächelnd leicht zur Seite neigen und jedem Passanten, der es wissen will, am eigenen Beispiel demonstrieren, wie einfach es doch ist, sich Zeit zu nehmen. Denn man muss sie sich nur stehlen. Nicht umsonst wird der Flaneur auch Tagedieb genannt. Und weil man diese Weisheit über möglichst viele Passanten ausstreuen möchte, promeniert man nicht zum nächsten Restaurant, sondern zum Brezelstand. - Brezel-to-go, könnte man jetzt sagen. Einszweidrei, im Sauseschritt läuft die Zeit; wir alle laufen mit. 

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