Die hohe Kunst der Verstellung

Wer kennt sie nicht - die besondere Species der Verstellungskünstler, die sich anders geben, als sie sind? Sie sind überall dort anzutreffen, wo mehrere Menschen zusammenkommen. Für sie ist die Kunst der Verstellung zur Gewohnheit geworden. Da ist zum Beispiel der Handynutzer, der vor einem Publikum, sei es in einem Café oder vor dem Dom mit dem Headset auf dem Kopf unüberhörbar vermeintlich wichtige Angelegenheiten besonders aus dem Geschäftsleben erörtert, als ginge es um die Rettung des ganzen Bankengewerbes. Er spricht so laut, dass keiner der Gäste oder Passanten auf die Idee käme, er führe Selbstgespräche, obwohl er es ganz sicher tut. Oder der Solariennutzer, der uns mit seiner künstlichen Bräune mitten im Winter vorgaukelt, er käme gerade frisch aus dem Urlaub oder vom Rheinstrand. Oder der Herr mit der falschen Rolex, der im Café neben uns sitzt, seinen Espresso trinkt und anschließend, ohne dem Kellner ein Trinkgeld zu geben, bezahlt.
Sind alle diese Mehrscheiner und Protzer, diese Heuchler und Scheinheilige von dem böswilligen Verlangen beseelt, uns hinters Licht zu führen? - Ganz sicher nicht! Beobachten wir die alte, mondäne Dame mit der teuren Louis-Vuitton-Reisetasche an Bahnsteig 3 und 4, dort, wo die IC’s und ICE’s ankommen. Jeden Tag steht sie da, aber nicht, wie man annehmen könnte, um täglich aufs Neue zu verreisen oder die ankommenden und abfahrenden Züge zu beobachten, sondern um in sie einzusteigen, wie all die Reisenden um sie herum, und in Sekundeneile, je nachdem, wie lange der Zug dort hält und wie stark das Gedränge ist, einige Wagons nach leeren Pfandflaschen zu durchkämmen und wieder auszusteigen. Trägt sie nun diese extravagante Eleganz zur Schau, um uns zu täuschen und ihre Armut zu kaschieren? Oder spielt sie die wohlhabende Reisende, um ihre Würde zu bewahren? - Wir wissen es nicht. Das einzige aber, was wir wissen können, ist, dass sich die tausend Falten ihres Gesichts, in denen der Schmutz und die Schwermut sitzt, in dem Moment, in dem sie den Zug besteigt, zu einem verzückten Lächeln zusammenziehen. Denn für diesen einen Augenblick nährt sie die Illusion, sie würde wirklich verreisen. Damit kann die Verstellung die Wirklichkeit ein klein wenig verändern. Denken wir daran, wie sich unsere Stimmung schlagartig aufhellt, wenn wir unsere Gesichts- besonders aber die Augenmuskulatur in die Position eines Lächelns bringen. Das ist uns als Mainzer nicht fremd, gerade jetzt, wo die fünfte Jahreszeit vor der Tür steht. Aber das ist eine andere Geschichte.

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