Die Stolperschwelle

Machen Sie sich einmal den Spaß und starten Sie in Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis eine kleine Umfrage, indem Sie die so abwegige wie ungewöhnliche Frage stellen: »Warst Du schon einmal im Mainzer Dom?« Eingestanden, für einen Mainzer ist das eine unerhörte Frage. Aber so unerhört, wie sie erscheint, ist sie gar nicht. Denn zu ihrer Verwunderung werden Sie feststellen müssen, dass viele Mainzer noch nie in ihrem Leben dort waren. Das Gleiche gilt für das Gutenberg Museum oder die Kunsthalle. Viele Mainzer scheinen ihre eigenen Stadt nicht zu kennen. Wer war denn schon einmal in der pittoreske Pankratiusstraße? Oder dem Containerhafen? Wer hat denn schon die nördliche Eisenbahnbrücke überquert? Hand aufs Herz! - Ich auch nicht. Wie bei vielen anderen Menschen, so ist auch mein Blick in die Ferne gerichtet: nach Paris, London oder Timbuktu. Die eigene Stadt ist und bleibt einem fremd.
Schwärme von aktenköfferchentragenden und powerpointbewehrten Beratern sind schon seit Jahren in allen Bereichen der Wirtschaft und Verwaltung unterwegs, um aus Effizienzgründen gegen die sogenannte Betriebsblindheit also gegen verfestigte Denk- und Handlungsgewohnheiten anzukämpfen. Anders ausgedrückt: Sie versuchen die Menschen aus ihrem Gleichgewicht zu bringen, obwohl diese alles dafür tun, um es zu bewahren, oder, falls sie es für verloren glauben, wieder zu finden. Wie sonst ist die Inflation des neudeutschen Wortes »Balance« auf Feuchtigkeitscrémes und Bodylotions, Kautabletten und Laufschuhen, selbst Kaugummis und Frischkäse zu verstehen? Ja, es gibt sogar schon die Original »Balance-Pizza«.
Aber zurück zu Mainz: Angesichts der eigenen Stadtblindheit wünscht man sich jemanden wie diese Berater oder irgendetwas anderes, das einen beim Einkauf aus dem gewohnten Trott reißt, das einen nur leicht aus dem Gleichgewicht bringt. So etwas wie eine Stolperschwelle mit der Aufschrift »Achtung Dom, bitte eintreten!«, die in der Höhe so eingerichtet ist, dass man nicht fällt, sondern stolpert. Das wäre aber eine rabiate Methode, die man ruhig den Unternehmensberatern überlassen kann. Man könnte aber auch einen Kunstgriff anwenden, indem man einfach einmal seine Rolle als Mainzer Bürger ablegt und in die eines Touristen schlüpft, mit Übernachtung in einem Mainzer Hotel. Oder man lädt sich Freunde von außerhalb ein, mit denen man Mainz erkundet. Oder man schnallt sich beim nächsten Einkauf einen Campingstuhl auf den Rücken, den man je nach Bedarf aufklappt. Noch besser aber wäre ein rotes Sofa, wenn man zu zweit ist. Ganz sicher erscheint Mainz dann in einem anderen Licht.  

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