Der Charme einer Stadt wie der einer Frau liegt in den Dingen, die man nicht auf den ersten Blick gewahrt, hat einmal ein kluger Kopf gesagt. Gewiss haben die anderen, die offen zur Schau getragenen, auch ihren Wert und Wirkung. Aber kein Perlengehänge, keine plakative Mundbemalung, keine noch so hoch getürmte Frisur hat den tiefen unergründlichen Reiz eines nicht nachweisbaren Dufts, eines dezenten Lidstrichs, einer unbeabsichtigten Nachlässigkeit, die man zunächst gar nicht zu sehen meint, wie etwa dem leicht verrutschten Träger eines Kleides. - So ist es auch mit den Städten. Nichts gegen ihre Sehenswürdigkeiten, ihre Kirchen und Schlösser, ihre Museen und Denkmäler. Man starrt sie an und nickt bedächtig mit dem Kopf und findet, dass sie schön und beeindruckend sind, wie es ja auch ihre Bestimmung ist. Aber die Liebe hängt an anderen Dingen, an unscheinbaren, intimeren; an so unauffälligen oft, dass der Einheimische sie selbst gar nicht zu benennen weiß, dass er daran oftmals achtlos vorbeigeht, die er aber vermissen würde, wenn sie nicht mehr da wären. In Mainz wäre das zum Beispiel der zu einer Wind und Wetter und selbst alle Formen von Vandalismus trotzenden Büchervitrine umgebaute Stromverteilerkasten, der einsam an der Ecke Taunusstraße/Feldbergplatz steht. Wem er ins Blickfeld gerät, kommt nicht umhin seine Nase an den Scheiben platt zu drücken, um das vielfältige und manchmal doch skurrile Bücherangebot zu bestaunen. Man wundert sich über diese kleine Bibliothek, die ganz ohne Bibliothekar auskommt, und in der jeder aus dem Bestand, wann immer er es mag nach eigenem Ermessen Bücher ausleihen und nach einer ihm genehmen Zeit wieder zurückstellen kann. Man gerät in ihren Bann, wenn man dort Bücher ausleiht und den Bestand aus Büchern seiner eigenen Bibliothek erweitert, und so ganz nebenbei dies und das über die Menschen, die dort wohnen, wie - pars pro toto - über die Mainzer insgesamt erfährt: Denn zwischen den 70er-Jahre-Ratgebern und Schmachtfetzen, den Krimis und Kinderbüchern, die dort allesamt versammelt sind, steht kein Goethe und kein Thomas Mann und auch sonst keine hohe Literatur. - Ein Böswilliger würde jetzt sagen, was sich hier abbilde, sei der literarische Geschmack der Stadt. Aber weit gefehlt! Wer sagt denn, dass sich die Mainzer nicht sofort auf die hochgeistige Literatur stürzen, wenn sie hier abgestellt wird? Denn genau das, was hier nicht steht, wird doch gelesen! - Oder? Damit würde dann auch der Vorwurf entkräftet, dass es sich bei dieser Art Bibliothek lediglich um eine Altbuchentsorgungsstelle handle.
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