Mainzer Wohlfühlkompetenz

Wer in diesem Frühling des Öfteren kurz nach Sonnenaufgang am Viktor-Hugo-Ufer entlang spaziert, kennt die zehn bis fünfzehn weiß gewandten Männer und Frauen mittleren Alters schon, die dort fast täglich, mit ebenso weißen Baseballschlägern oder anderen keulenartigen Gerätschaften bewaffnet, scheinbar regungslos um einen Haufen Pappkartons in allen Größen und Formen zusammenstehen. Er wundert sich auch nicht mehr, wenn dieses Grüppchen, das in dieser frühen Morgenstunde von weitem ein wenig an die Elfen Tolkiens erinnert, plötzlich damit beginnt, auf die leeren Pappkartons einzuprügeln, bis diese ganz platt sind und dabei »Stärke deinen Morgen!« zu murmeln.
Das, was hier wie eine esoterische Zeremonie oder asiatische Kampfsportart daher kommt, ist nichts anderes als »Container Bashing«, ein neuer Wellnesstrend, der an den Stränden Südkaliforniens entwickelt wurde, damit kleinere und mittlere Angestellte im Dienstleistungsbereich ihr Aggressionspotential neutralisieren und so im Job tausendprozentig funktionieren können. »Container Bashing« soll vor allem dem Burnout-Syndrom vorbeugen, indem es die aggressiven Impulse etwa im Umgang mit ungebührlichen Kunden, aber auch mit fordernden Vorgesetzten nach außen ableitet, ohne dass sie sich nach innen richten können und man sich selbst beschädigt. Das ermöglicht dem Einzelnen, neue Energie aufzutanken.
©  Christian Kohl
Ähnlich wirken auch die so genannten Kuschelpartys, bei denen sich einander fremde Menschen treffen, um für zwanzig Euro in ruhiger und angenehmer Atmosphäre bekleidet miteinander zu kuscheln. Wobei hier allerdings das entspannende Moment im Vordergrund steht.
Blickt man aber in die Gesichter sowohl der Kuschler als auch der Container-Schläger, dann muss man feststellen, dass sie nicht besonders glücklich wirken. Sie strahlen wie fast alle, die sich neuen Wellnesstrends verschrieben haben, eher so etwas wie luxuriöse Leblosigkeit aus. Es ist wie mit Menschen, die sich für sportlich halten, weil sie im Trainingsanzug die Sportschau gucken. Statt Kartons einzuschlagen und sich mit Aloe-Vera-Keksen vollzustopfen, sollten sie sich doch eher auf das Mainzer Wesen zurückbesinnen, wenn es ihnen »bis zum Kracheknebbchen (Kragenknöpfchen) steht« und in ebendieser Sprache »die Sterne vom Himmel runterschenne«. Für jede Lebenssituation gibt es unnachahmliche Mainzer Wörter und Sprüche etwa, wenn der Chef den Lohn kürzen will, um am Markt bestehen zu können: »Sie babbele e Blech zusamme, ei merr hört’s jo schunn klimpern«. Adressatengerichtetes Schimpfen - und gerade auf Määnzerisch - löst innere Spannungen, baut Aggressionen ab, beugt psychosomatische Krankheiten vor und erhöht nicht zuletzt das Selbstwertgefühl, alles Dinge, die uns Wellness verspricht. 


Abdruck in: Lokale Zeitung Mainz Mai 2011. www.lokalestadtausgabe.de

4 Kommentare:

  1. Sehr schöne Kolumne. Ich hätte nur gern gewusst, ob diese weißgewandeten Menschen dort wirklich stehen? Verrückt.

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  2. Köstlich, Herr Neumann! Würde gerne mehr von Ihnen lesen.

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  3. Kuschelpartys! - Wo gibt's denn sowas? In Mainz?

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