Der schöne Schein. Der Weihnachtsmarkt - ein Ort der Illusion?

Was hat es mit dem weihnachtlichen Gefühl auf sich, dem Gefühl von Harmonie und Geborgenheit, das in uns geweckt wird, sobald wir einen Weihnachtsmarkt betreten, obwohl wir im geschäftigen Treiben, dem Gedrängel, Gestoße und Geschiebe besonders um die Glühlweinstände herum nicht die geringste Spur von Harmonie finden? Hat es vielleicht etwas mit früheren Erlebnissen auf einem Weihnachtsmarkt zu tun, die wir als harmonisch abgespeichert haben? Das Gedächtnis schlägt einem manchmal ja ein Schnippchen. Es ist kein statischer Aktenordner oder ein verstaubendes Archiv. So erscheinen Erinnerungen an frühere Zeiten - zumal bei älteren Menschen - in immer rosigeren Farben. Da waren die Ferien schöner, die Menschen freundlicher, die Winter weißer und die Feste ausgelassener. In dieser allgemeinen Verklärung hat man sich selbst auch als glücklicher in Erinnerung, obgleich die Vergangenheit bei objektiver Betrachtung meist keineswegs so heiter, problemlos und beglückend war. Umgekehrt ist es bei schwermütigen Menschen.
© Christian Kohl 
Erinnerungen sind oft nicht steuerbar, sie entstehen aus dem Augenblick heraus. Das wohl berühmteste Beispiel stammt aus Marcel Prousts Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, in dem das Aroma eines in Lindenblütentee getauchten muschelförmigen Gebäcks namens Petite Madeleine plötzlich einen Schwall von Kindheitserinnerungen auslöst und damit den Roman in Gang setzt. Ähnlich ergeht es uns beim Duft von gebrannten Mandeln, gerösteten Maronen, Zimt, Nelken und Zuckerwerk jeder Art, wenn wir über den mittelalterlich anmutenden Weihnachtsmarkt schlendern. Wir fühlen uns in einen von allen Spannungen befreiten Raum in unserer Kindheit zurückversetzt, in eine glitzernde Märchenwelt, die es aber nie gab. Denn unser Gedächtnis ist so anschmiegsam, dass wir vieles einfügen können, was wir gar nicht erlebt haben, etwa Szenen aus Weihnachtsmärchen, Werbefilmen oder Weihnachtsfilmen der Disney-Traumfabrik, in der die Menschen stets gut zueinander sind. Das geschieht bei jedem von uns zwar auf unterschiedliche Art und Weise, kann aber dennoch zu einer einheitlichen Wirkung führen, in diesem Fall also ein diffuses Gefühl von Harmonie und Geborgenheit erzeugen, das von vielen Menschen geteilt wird, obwohl es jeglicher Grundlage entbehrt.
Man kann also von dem Weihnachtsmarkt als einem Ort leerer oder zumindest erlebnisarmer Erinnerungen sprechen, einem Ort der Illusion. Es ist wie bei den beliebten Volksmusiksendungen, in denen Sänger in Trachtenkleidern vor einem künstlichen Bergpanorama schlagermäßig aufbereitete Volkslieder zum Besten geben, um das Verlangen der Zuschauer nach Geborgenheit zu befriedigen. Die Illusion wird hier wie dort durch die vielen Kitschgegenstände noch verstärkt, die gleichsam Versatzstücke einer auf Gefühlsduselei ausgelegten Inszenierung sind. Auf dem Weihnachtsmarkt sind es etwa Handtücher mit Engelsbildern, Fensterbilder, Keramikwaren mit Aufdrucken der Weihnachtsgeschichte, also Gegenstände, die einem profanen Zweck dienen, aber primär ein religiöses Motiv darstellen oder mit einem religiösen Motiv geschmückt sind und es herabwürdigen, oder reine Dekorationselemente, die entweder als romantische Geschenkideen angepriesen werden, wie Christbaumschmuck und Kerzen, oder den Weihnachtsmarkt selbst schmücken, wie die Lichterketten, die in ihrer Gesamtheit einem Zelt nachempfunden sind, um einen beschirmenden Sternenhimmel zu imitieren.
Der Hang nach dieser helfenden Illusion stellt aber nichts Verwerfliches dar. Die Flucht aus der komplexen und komplizierten Wirklichkeit ist verständlich und das Kitschbegehren, das die Illusion von Harmonie und damit das Weihnachtsgefühl nährt, nahe liegend. Es gilt der Satz von Hundertwasser: »Die Abwesenheit von Kitsch macht unser Leben unerträglich.«


Abdruck in: Mainzer Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft und Geschichte 4/11, S. 5ff. www.mainz-hefte.de 

Der Kaiser ist nackt

Unschönes lässt sich oft mit schönen Worten ausdrücken. Man denke an so wohlklingende Ausdrücke wie »Entsorgungspark«, »sozialverträgliches Frühableben«, »Freistellung« oder »Minuswachstum«. Kein Wunder also, dass diese Ausdrücke bei Politikern beliebt sind, wie überhaupt bei Entscheidern jeder Art, wenn aus Motiven wie Profilierungs- und Profitdenken die eigenen Interessen ohne Gesichtsverlust durchgesetzt werden sollen; sicher auch um das schlechte Gewissen zu beruhigen. Zu diesen Ausdrücken gehört auch das schönes Wörtchen »Synergieeffekt«, das meist im Plural verwendet wird, wenn von Fusionen, Übernahmen und Schließungen die Rede ist.
© Christian Kohl
Damit Sie mich nicht falsch verstehen, ich habe nichts gegen Synergieeffekte, schließlich ist es ja gut, wenn man sich durch Zusammenarbeit gegenseitig stabilisiert oder wenn durch den Zusammenschluss zweier Firmen ein neues Unternehmen entsteht, das mehr leistet als die Summe beider Organisationen. Ich habe nur etwas gegen den falschen Gebrauch des Wortes, etwa wenn eine Organisation aus Kostengründen oder zum Nutzen der anderen zerschlagen wird. Das wäre dann nichts anderes als Demontage. Hierzu ein aktuelles Beispiel aus der Mainzer Politik: Im Rahmen der Sparmaßnahmen erwägen die Stadtväter, die Mainzer Stadtbibliothek zu schließen und die Bestände auf drei Standorte zu verteilen. Demnach käme das Stadtarchiv und Altbestände der Wissenschaftlichen Bibliothek in eine der künftig leer stehenden Grund- oder Hauptschulen, alte Handschriften etwa oder Inkunabeln ins Gutenberg-Museum und der Restbestand in die Universitätsbibliothek. Begründet wird diese Zerschlagung, denn um nichts anderes handelt es sich hier, mit jährlichen Einsparungen zwischen 1 Million und 1,5 Millionen Euro und den durch die Zusammenlegung von Stadt- und Universitätsbibliothek entstehenden Synergieeffekten. Wie aber kann man hier von Synergieeffekten sprechen, wenn es die Stadtbibliothek nicht mehr gibt und wenn  ihr Bestand, der eingefroren werden soll, in der Universitätsbibliothek aufgeht? Ist das nicht Täuschung?
Synergieeffekte könnte man erzielen, wenn man die Bibliothek beispielsweise optimal an das öffentliche Verkehrsnetz anbinden oder mit der Volkshochschule zusammenlegen würde, um etwa die Besucherfrequenz zu steigern. Das spült Geld in alle Kassen. Aber soweit denken manche Stadtväter ja nicht. Der Gestaltungswille geht ihnen leider völlig ab, auch der Sinn für Kultur und Bildung, von Tradition und Geschichte gar nicht zu sprechen. Stattdessen aalen sie sich lieber in wohlklingenden Worthülsen und schmücken ihre Stadt mit Titeln wie »Stadt des Buches« oder »Stadt der Wissenschaften«, die sich bei einer solchen Politik als publikumswirksame Placebos entpuppen. Man fühlt sich an Hans Christian Andersens Märchen »Des Kaisers neue Kleider« erinnert. Der Kaiser ist nackt. 

Sieg über das Wutvirus

Mainz ist auf dem besten Weg zu einer der bedeutendsten Städte der Bundesrepublik, ja vielleicht der ganzen Welt zu werden. Man denke etwa an so herausragende Titel wie »The Great Wine Capital« oder »Stadt der Wissenschaften«, oder auch an die neue Coface-Arena, die geplante Mainzelbahn und andere anstehende Projekte. Doch es scheint nur so. Denn wie weiland beim Turmbau von Babel wächst unter den Mainzer Bürgern von Tag zu Tag der Anteil der Spielverderber, die viel zu viel analysieren und allzu oft dunklen Gedanken nachhängen: Sie bezweifeln, ob dies alles zum Wohle der Stadt geschehe. Argwohn erregen vor allem Großprojekte wie Möbel Martin mit einer gigantischen Verkaufsfläche von 45.000 Quadratmetern, die in etwa der Fläche der diesjährigen Bundesgartenschau in Koblenz entspricht, oder das »Handelsquartier« an der Lu mit 30.000 Quadratmetern. Viele befürchten, dass am Ende mehr gebaut werde, als Kaufkraft existiere. Die Folgen lägen auf der Hand: Ladenschließungen, Arbeitslosigkeit, Verödungen ganzer Stadtviertel usw. usw.
Aber was nützen all die Befürchtungen und Einwände, wenn die Großprojekte doch durchgezogen werden? Was nützt dann wütender Protest? Man sieht es ja in Stuttgart. Oder noch weiter: an der Banken- und Schuldenkrise. Die wütenden Miesepeter sollten einfach positiv denken, das führt schon zum gewünschten Ziel, so jedenfalls suggerieren es die Motivationstrainer, Coachingexperten, Ratgeberautoren und Karrierescouts, die derzeit wie Pilze aus dem Boden schießen. Nach ihnen, können wir die Welt mittels unserer Gedanken beherrschen. In der Welt des positiven Denkens stellen sich die Probleme nur in unserem Kopf und lassen sich leicht durch Willensanstrengung meistern. In dieser Art Selbsthypnose können wir Armut, Arbeitslosigkeit oder niedrige Löhne als Chance begreifen und mit Optimismus ja Dankbarkeit begegnen. Wir sehen es an guten Verkäufern, die die Lügengeschichten, die sie manchmal erzählen, irgendwann selbst glauben. Oder denken wir an die Kraft positiver Worte. Mit Lob kommen wir weiter als mit Kritik. Das gilt auch hinsichtlich beschönigender Beschreibungen. Kein erwachsener Mensch käme wohl auf die Idee, mit einem Kinderroller durch die Stadt zu fahren, wenn man diesen nicht Kickboard nennen würde.
Also bewahren wir uns eine positive Haltung und bleiben wir offen. Wir brauchen nur wie ein Sieger und nicht wie ein Verlierer zu denken und Mainz erstrahlt in neuem Glanz. Der Erfolg ist garantiert. Und wenn er nicht eintritt und wir immer noch wütend sind, dann liegt es nicht am positiven Denken, sondern an uns selbst. Dann haben wir uns nicht genug Mühe gegeben, positiv zu denken.

Milchmädchenrechnung

Ich muss es offen aussprechen: Wie jeder Banker, Unternehmer, Politiker und überhaupt fast jeder, der mindestens ein Bankkonto besitzt und eine Versicherung abgeschlossen hat, hänge ich an Zahlen. Zahlen sind in einer immer komplexer werdenden Welt oft das Einzige, was Orientierung verspricht. Sie stellen etwas Stabiles dar, etwas, was Sicherheit vermittelt. Man spürt es schon im Umgang mit ihnen, etwa bei den Grundrechenarten. Hier gibt es immer nur eine richtige Lösung, ganz im Gegensatz zu den meisten Entscheidungen, die man tagtäglich treffen muss.
Das ist aber nicht der einzige Grund, warum ich eine Schwäche für Zahlen habe. Viel wichtiger ist, dass man mit ihnen spielen kann, dass sie unsere Fantasie anregen. Umfragen, Bilanzen, Statistiken sind doch nichts anderes als mehr oder weniger großartige paradoxe Spielereien. Es sind Zahlen aus der Vergangenheit, mit denen man spielt, um Voraussagen über künftige Ereignisse zu treffen, die so - wie vorausgesagt - aber nie eintreten können, weil die Voraussagen natürlich Verhaltensänderungen anschieben. Unsere Fantasien können sich an einigen wenigen Zahlen entzünden, die Rückschlüsse auf das Ganze zulassen. Nehmen wir z. B. die Zahl 684. So viele Geldspielautomaten in Spielhallen kommen nämlich auf 100.000 Rheinland-Pfälzer, auf einen Automaten also ca. 147. Rheinland Pfalz nimmt damit einen einsamen Spitzenplatz ein. Zwei Vergleichszahlen: In Hessen kommen 535 auf einen Automaten, in Berlin gar 963.
Das sind Zahlen, mit denen man wunderbar jonglieren kann, etwa indem man das Wesen des Rheinland-Pfälzers zu ergründen sucht. - Man bedenke, dass nur wenige Tintenspritzer, das Badewasser einfärben können. -  Zum Beispiel: Jeder weiß, dass am Spielautomat nicht wirklich etwas zu gewinnen ist, was dem Leben eine neue Richtung verleiht, wie beim Lottospiel oder auch im Kasino. Dem Rheinland Pfälzer genügt demnach das kleine Glück. Er baut keine traumhaften Luftschlösser. Er flieht aber dennoch vor der Realität. Denn vor dem Geldspielautomaten zählen weder Bildung, noch der Name, noch die Position. Vor dem Zufall sind alle gleich. In der Spielhalle gibt es auch keinen entscheidenden großen Kampf, der alles zum Guten wenden kann. Es gibt kein Ende. Hier fängt jeder immer wieder von vorne an. Auf den Rheinland-Pfälzer gewendet, kann man sagen: Der Weg ist sein Ziel. So kann man beliebig weiterspinnen. Man kann sagen, dass den Rheinland-Pfälzer dabei nichts aus der Ruhe bringt, - wie den Spieler, der in absoluter Anspannung und Aufmerksamkeit im Spiel aufgeht usw. usw.
Übrigens für die, die es nicht bemerkt haben, die Zahl 684 ist natürlich erfunden. Es kommen nur halb so viele Spielautomaten auf 100.000 Rheinland-Pfälzer. Immerhin noch genug, um den Spitzenplatz zu behaupten. Das ist denn auch der dritte Grund, warum ich mich für Zahlen begeistere: Man kann mit ihnen wunderbar lügen. 

Mainzer Pioniergeist. Eine verquere Betrachtung des Brandzentrums

Die Mainzer sind, das muss man bei näherer Betrachtung immer wieder feststellen, nicht nur ein äußerst feierlustiges, sondern auch ein ausgefuchstes Völkchen. Entgegen der herkömmlichen Meinung, welche die Mainzer als provinziell oder gar rückständig herabwürdigt, sind sie ihrer Zeit oft weit voraus. Der Fremde erkennt das nicht auf den ersten Blick. Wie auch, wenn ihm der Sinn dafür abgeht? Er versteht das nicht. Er kann damit nichts anfangen, zunächst nicht, - weil er allzu sehr in der Gegenwart gefangen ist. Man denke etwa an die Mainzer Republik - das erste auf bürgerlich-demokratischen Grundsätzen beruhende Staatswesen auf deutschem Boden - und die Reaktion der Preußen und der hessischen Nachbarn darauf. Von so prominenten Mainzern wie Rhabanus Maurus oder Johannes Gutenberg gar nicht zu reden. 
Aber man braucht gar nicht so weit zurückzugehen. Wer sind denn die eigentlichen Vorreiter der Fast-Food- und Coffetogo-Kultur? - Natürlich die Mainzer. Denn was ist die Mainzer Brezel, die man schon immer gerne auf der Straße im Vorbeigehen verspeist, anderes als die Vorform des Hot-Dogs und des Hamburgers.

Auch in der Architektur sind die Mainzer Pioniere. Sinnfälliges Beispiel ist der Dom - und auch der Brand. Denn gerade der Brand stellt in der Zeit seiner Errichtung in den frühen 1970er Jahren etwas völlig Neues dar, das man erst seit einigen wenigen Jahren zu würdigen in der Lage ist.
Die Abänderung des Entwurfs des dänischen Architekten Arne Jacobson durch den Mainzer Architekten Heinz Lautbach kann man zunächst einmal als eine Abkehr von den formalen Experimenten öffentlicher Bauten der 1960er und 1970er Jahre hin zu einer pragmatischen Haltung deuten, die weitgehend von den Bedürfnissen der Marktwirtschaft bestimmt wird und das Primat des Ökonomischen der kommenden Jahre vorwegnimmt. Dementsprechend reiht sich ein Ladengeschäft an das andere. Das ist auch nach den Umbaumaßnahmen der letzten Jahre so geblieben, die sich an dem Konzept der 1970er Jahre orientieren.
Das gesamte Brandzentrum besitzt noch immer - was in den 1970 Jahren hipp und chic war - den Charme einer überirdischen U-Bahnstation mit angegliederten Geschäften, auch wenn es sich jetzt zum Rathausplatz optisch ausweitet. Außer einem Eiscafé und insgesamt neun Metallbänken auf dem zentralen Platz - fünf um die drei Wasserbecken, die man Brunnen schimpft und doch nichts anderes als vergessene Pferde- und Hundetränken sind und vier um den Lebensbaum aus Donaukalk, der mitten in einem wie bei einer Begräbnisstätte eingefassten Blumenbeet steht - gibt es keine Kommunikationsmöglichkeiten und Ruhezonen. Hierzu kann man vielleicht auch noch das doppelgrabgroße Karree mit den drei in Beton eingelassenen Federwippen und das dazugehörige buntgestreifte Zweimeterhäuschen zählen.
Ansonsten ist nach wie vor alles auf Einkauf und Verkauf ausgerichtet. Hier wird nicht wie vielerorts gejoggt, geskatet, gewalkt oder gebruncht. Auch Flash- und Smartmobs, bei denen sich viele Menschen zu absonderlichen Kurzaktionen verabreden, finden hier nicht statt. Obwohl das Brandzentrum außerhalb der Geschäftsöffnungszeiten nahezu menschenleer ist, dient es auch da nicht, wie man es bei niedrig frequentierten überdimensionierten Zweckbauten vermuten könnte, als Übungsplatz für das so genannte Parcouring, einer Sportart, bei der alle möglichen Hindernisse wie Bänke, Mülltonnen, Mauern, Schluchten übersprungen oder überklettert werden. Hier findet man keine Graffitis, keine Street-Art und kein Guerilla-Gardening, wo betonierte und gepflasterte Straßenränder in kleine Blumenbeete verwandelt werden.
Kurzum: Das Brandzentrum ist noch immer kein Ort des öffentlichen Lebens. Das aber nimmt der Mainzer im Großen und Ganzen gar nicht als störend wahr. Denn der burgähnliche Komplex mit den stark gefalteten Fassaden und den terrassenförmigen Etagen erfüllt für ihn eine ganz andere, viel wichtigere Funktion, worin der Mainzer Pioniergeist eigentlich erst richtig zum Ausdruck kommt: Im Zuge der Globalisierung ist es mittlerweile fast gleichgültig, ob man sich in Mannheim, Dortmund oder Köln befindet. Überall findet man McDonalds, Starbucks, H&M und Co. Die Einkaufsstraßen der westlichen Städte sind voll mit internationalen Ladenketten, sie sind zu einem austauschbaren Bild geworden. Das Brandzentrum nun verhindert diese zunehmende Angleichung des Mainzer Stadtbildes, mit denen anderer Städte und den Verlust der ortsspezifischen Charakteristika, indem es diese Ladenketten innerhalb seiner mit graugrünem Quarzitschiffer verkleideten Mauern wie in einem mittelalterlichen Ghetto zusammenpfercht. Es wäre nur noch zu hoffen, dass auch die unterirdischen Parkdecks des Brandzentrums zu solcher Art Ghettoisierung umfunktioniert werden würden. 

Abdruck in: Mainzer Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft und Geschichte 3/11, S. 5ff. www.mainz-hefte.de 

Was ist nur mit unseren Politikern los?


Wissen Sie eigentlich, was Spitzenpolitiker wirklich denken, und was sie sagen, wenn kein Journalist, keine Kamera und kein Mikrophon in der Nähe ist? Oder wenn sie sich unerkannt glauben? - Nein? Offen gestanden, ich auch nicht. Meine Erfahrung mit dem geheimen Gedankenhaushalt eines Politikers beschränkt sich lediglich auf ein paar wenige Lokal- und eins, zwei unbedeutende Landespolitiker. Aber auch das kann manchmal sehr aufschlussreich sein:
© Christian Kohl
Nehmen wir zum Beispiel diesen jungen Landtagsabgeordneten - sein Name soll hier ungenannt bleiben -, der letzten Samstag beim Mainzer Marktfrühstück vor mir in der Schlange am Kaffeewagen stand. Er wirkte kompetent, zumindest verstand er es, sein Jackett in den wenigen Minuten, die er vor mir stand, mehrmals dezent auf- und zuknöpfen.
Ich begann mich gerade äußerst lebhaft mit einer Freundin über den möglichen Kauf eines Bauernhauses im Rheinhessischen zu unterhalten, als er sich lächelnd umdrehte und rundheraus erklärte, dass auch er und seine Frau sich vor einiger Zeit überlegt hätten, ob sie sich ein Haus auf dem Lande kaufen sollten. Sie hätten sich aber dagegen entschieden. In der langatmigen, wortreichen Sprache eines Politikers zitierte er daraufhin eine Studie, wonach sich die medizinische Versorgung auf dem Lande in den nächsten zwanzig bis dreißig Jahren enorm verschlechtern würde.
Ich wollte schon entgegnen, dass dies doch nicht unbedingt der Fall sein müsse, dass die Politik dem ja entgegensteuern könne. Doch dann kam schon der Gedankensprung: »Das hat natürlich auch Konsequenzen auf die Immobilienpreise«, sagte er  und nahm seinen Latte macchiato in Empfang. »Stellen Sie sich vor, Sie kaufen sich jetzt ein Haus für fünfhunderttausend, und in fünfzehn Jahren, wenn sie es abbezahlt haben, ist es nur noch die Hälfte wert. - Das wollten wir nicht!«
Nun ist Politiker-Bashing eigentlich so gar nicht meine Sache. Doch ich frage mich noch heute, ob ein Politiker, auch ein Landespolitiker, überhaupt so argumentieren darf? Macht er sich damit denn nicht selbst überflüssig? Wo bleibt der Gestaltungswille, der den Politiker, wie ich bisher dachte, gerade ausmacht, wenn alles dem Markt, dem Schicksal oder wem auch immer überlassen bleibt? Der menschlichen Kreativität sind kaum Grenzen gesetzt. Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie viele Produkte der Mensch aus Milch herzustellen versteht, oder was er mit 26 oder 30 Buchstaben auszudrücken in der Lage ist…
Fühlt sich der einzelne Abgeordnete aufgrund der vielfältigen Zwänge von Fraktionen und Parteiapparaten, wie eine andere Studie besagt, vielleicht einfach machtlos, um für die Interessen seiner Wähler einzustehen? Dann muss man sich als Wahlbürger aber leider fragen, wozu man ihm denn seine Stimme gegeben hat. 

Und es bewegt sich doch!

Eine Stadt lebt von Bewegung. Man könnte auch sagen, Bewegung ist ihr Leben. Das ist bei Menschen, die einen wesentlichen Teil dessen ausmachen, was wir Stadt nennen, auch nicht anders. In einer Erzählung von Joseph Conrad wird der an Tuberkulose erkrankte Titelheld James Wait auf einer Schiffsfahrt von Bombay nach London gefragt, warum er die Reise trotz seiner Krankheit angetreten habe. Woraufhin er antwortet: »Ich muss leben, bis ich sterbe - oder nicht?« Eine triviale und dennoch außergewöhnliche Antwort, die seine Reise mit seinem Leben gleichsetzt, eine Offenlegung der Motive aber schuldig bleibt. 

Die Gründe, warum wir uns in Bewegung setzen und nicht in Trägheit verharren, sind sehr vielfältig und abhängig von unseren jeweiligen Bedürfnissen, allen voran den Grundbedürfnissen. Eine wichtige Rolle spielt das Geld. Wobei zu viel davon, was der Neoliberalismus mit Bedacht verschweigt, wiederum träge macht. Linda Evangelista, eines der bestbezahlten Fotomodelle der 1990er Jahre, sagte einmal: »Für unter 10.000 Dollar am Tag, stehen wir gar nicht erst auf.« 

©  Christian Kohl
Die betuchten Trägen bewegen sich nur, wenn es nicht mehr zu vermeiden ist, und wenn es an ihre Pfründe geht, auf die sie ein natürliches Anrecht zu haben glauben. Das gilt auch bei jeder Art von staatlicher Alimentierung, was man im Zuge von Sparmaßnahmen immer wieder beobachten kann. Nehmen wir die Spar-Diskussion um das Mainzer Staatstheater: Jetzt endlich verlassen auch die trägen Theaterleute ihre ummauerte Festung, um Verbündete im Kampf gegen den Rotstift zu suchen und ganz nebenbei, weil es gerade nützlich ist, auf hohem Ross den Untergang der Kultur zu beklagen.
Wie lange haben wir darauf gewartet, auch wenn sie mit einer Affenliebe an überkommenen feudalen Strukturen festzuhalten versuchen! Dachten wir doch schon, das hohe Haus scheue den Umgang mit uns Mainzer Bürgern. Wir seien ihnen nicht gut genug. Wie viele Mainzer Schauspieler, Regisseure und Autoren müssen ihr Brot in fremden Landen verdienen, anstatt in ihrer Heimat zu brillieren! Wie viele Mainzer haben schon damit begonnen, das Theater als Fremdkörper im kulturellen Leben der Stadt zu betrachten und sich seine Öffnung zu wünschen! Denkbar wären Kooperationen mit den unzähligen und unterschiedlichsten Kulturprojekten, die ein Kellerdasein fristen, - und zwar nicht, weil es ihnen an Qualität, sondern an finanziellen Mitteln mangelt. Oder eine Nacht des Theaters mit Spielstätten überall in der Stadt… 

Aber damit sich in Mainz noch mehr bewegt, wäre es an langsam an der Zeit, sich auch die Palliativrhetoriker in Politik und Wirtschaft vorzunehmen und gegen die selbst verordneten Diäten, die fetten Unternehmergewinne, die saftigen Abfindungen von ausscheidenden Vorstandsmitgliedern und die Ämterhäufung anzugehen.


Mainzer Wohlfühlkompetenz

Wer in diesem Frühling des Öfteren kurz nach Sonnenaufgang am Viktor-Hugo-Ufer entlang spaziert, kennt die zehn bis fünfzehn weiß gewandten Männer und Frauen mittleren Alters schon, die dort fast täglich, mit ebenso weißen Baseballschlägern oder anderen keulenartigen Gerätschaften bewaffnet, scheinbar regungslos um einen Haufen Pappkartons in allen Größen und Formen zusammenstehen. Er wundert sich auch nicht mehr, wenn dieses Grüppchen, das in dieser frühen Morgenstunde von weitem ein wenig an die Elfen Tolkiens erinnert, plötzlich damit beginnt, auf die leeren Pappkartons einzuprügeln, bis diese ganz platt sind und dabei »Stärke deinen Morgen!« zu murmeln.
Das, was hier wie eine esoterische Zeremonie oder asiatische Kampfsportart daher kommt, ist nichts anderes als »Container Bashing«, ein neuer Wellnesstrend, der an den Stränden Südkaliforniens entwickelt wurde, damit kleinere und mittlere Angestellte im Dienstleistungsbereich ihr Aggressionspotential neutralisieren und so im Job tausendprozentig funktionieren können. »Container Bashing« soll vor allem dem Burnout-Syndrom vorbeugen, indem es die aggressiven Impulse etwa im Umgang mit ungebührlichen Kunden, aber auch mit fordernden Vorgesetzten nach außen ableitet, ohne dass sie sich nach innen richten können und man sich selbst beschädigt. Das ermöglicht dem Einzelnen, neue Energie aufzutanken.
©  Christian Kohl
Ähnlich wirken auch die so genannten Kuschelpartys, bei denen sich einander fremde Menschen treffen, um für zwanzig Euro in ruhiger und angenehmer Atmosphäre bekleidet miteinander zu kuscheln. Wobei hier allerdings das entspannende Moment im Vordergrund steht.
Blickt man aber in die Gesichter sowohl der Kuschler als auch der Container-Schläger, dann muss man feststellen, dass sie nicht besonders glücklich wirken. Sie strahlen wie fast alle, die sich neuen Wellnesstrends verschrieben haben, eher so etwas wie luxuriöse Leblosigkeit aus. Es ist wie mit Menschen, die sich für sportlich halten, weil sie im Trainingsanzug die Sportschau gucken. Statt Kartons einzuschlagen und sich mit Aloe-Vera-Keksen vollzustopfen, sollten sie sich doch eher auf das Mainzer Wesen zurückbesinnen, wenn es ihnen »bis zum Kracheknebbchen (Kragenknöpfchen) steht« und in ebendieser Sprache »die Sterne vom Himmel runterschenne«. Für jede Lebenssituation gibt es unnachahmliche Mainzer Wörter und Sprüche etwa, wenn der Chef den Lohn kürzen will, um am Markt bestehen zu können: »Sie babbele e Blech zusamme, ei merr hört’s jo schunn klimpern«. Adressatengerichtetes Schimpfen - und gerade auf Määnzerisch - löst innere Spannungen, baut Aggressionen ab, beugt psychosomatische Krankheiten vor und erhöht nicht zuletzt das Selbstwertgefühl, alles Dinge, die uns Wellness verspricht. 


Abdruck in: Lokale Zeitung Mainz Mai 2011. www.lokalestadtausgabe.de

Ich bin dann mal still

Was wäre, wenn Sie und alle anderen Leser die Lektüre dieser Kolumne nach dem ersten Satz beenden würden? Dann hätte ich natürlich ein Problem. Denn dann hätte ich die Kolumne umsonst geschrieben. Das zeigt wie wichtig Aufmerksamkeit ist.
Die Aufmerksamkeit des anderen zu gewinnen, gehört wohl wie Essen und Trinken zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Wir halten es einfach nicht aus, keine Rolle im Seelenleben der anderen zu spielen. Ja, wir nehmen sogar bleibenden Schaden, wenn wir kein Mindestmaß an Zuwendung beziehen. Aufmerksamkeit ist heute allerdings - angesichts der Informationsfülle und Reizüberflutung - eine äußerst knappe Ressource, um die ein regelrechter Kampf entstanden ist. Alles will und muss auffallen: das Produkt, der Politiker, die Nachricht, der Film, die Show, die Stadt … ja, auch wir selbst. Früher konnte man das noch durch ein außergewöhnliches Outfit erwirken, heute aber, wo alles Ausgefallene sofort zur Mode wird, funktioniert das nicht mehr. An dessen Stelle ist das Dampfgeplauder also das inhaltslose, oftmals widersinnige Geschwätz getreten, das mit vokalreichen, meist englischen Begriffen wie »Performance«, »Rebranding«, »Meeting« - um nur die gängigsten zu erwähnen - angereichert wird. Das ist zwar alles nicht neu, denn unsere Sprache ist gespickt mit substanzlosen Lehnwörtern und inhaltsleeren Wortneuschöpfungen, die das Mittelmaß und die mangelnde Kompetenz des Redners kaschieren sollen. Doch neu muss es sich anhören, und wichtig, so als ob man die Welt gerade selbst erschaffen hätte. Worte sind heute des Kaisers neue Kleider. Sätze wie »Sorry, ich hab gleich ein Date« werden mit einer solchen Vehemenz und papageienhaften Penetranz vorgetragen, dass wir gar nicht umhinkommen, den Redner für eine unabkömmliche und beliebte Persönlichkeit zu halten. Wir lassen solches Geplapper unhinterfragt über uns ergehen, sind beeindruckt und werden dabei selbst angesteckt. So hörte ich mich neulich wie ferngesteuert plappern: »Das finde ich irgendwie klasse, aber auch ziemlich strange.« Hauptsache irgendetwas gebabbelt, möchte man da sagen. Denn der Satz bedeutet eigentlich nichts und ist nichts als heiße Luft. Es war lediglich der Versuch, eine als unangenehm empfundene Redepause abzuwenden und mich in den Vordergrund zu drängen.
Kurzum: Wir hören nicht mehr zu. Wir denken nicht mehr nach. Und trachten nur noch danach uns selbst zu »verkaufen«. Vielleicht auch, weil wir es müssen. Man könnte ja die Fastenzeit zum Anlass nehmen, um sich hin und wieder mal in Schweigen zu üben. Das andere ergibt sich daraus sicherlich. - Ich bin dann mal still! 

Gewohnheitsblind

Wir Menschen sind Gewohnheitstiere. Daran gibt es nichts zu rütteln. Dies gilt im Besonderen, wenn es um unseren Alltag geht. Viele, wahrscheinlich die meisten, unserer Handgriffe sind so routiniert, dass sie ausgeführt werden, ohne dass wir großartig darüber nachdenken müssen. Erst wenn etwas den gewohnten Ablauf behindert, fällt uns auf, dass wir mechanisch gehandelt haben. – Lassen Sie sich doch mal bei morgendlichen Tätigkeiten wie dem Toilettengang, der Zeitungslek-türe oder dem Eierköpfen stören. Der ganze Tag gerät aus den Fugen.

                  © Christian Kohl
Gewohnheiten und Rituale scheinen ein stabilisierender Faktor für die Psyche zu sein. Sie helfen uns, uns im Leben zurecht zu finden, schleusen uns durch den Alltag, dienen der Angstabwehr und sorgen für Halt und Struktur. Sicher wirken sie auch lebensverlängernd. Nicht umsonst ver-suchen wir liebgewordene Gewohnheiten durch neue zu ersetzen, wenn wir sie aufgeben müssen. Das treibt manchmal seltsame Blüten, die uns bei anderen häufig zwanghaft erscheinen, und es vielleicht auch sind. Etwa wenn der andere zuhause angekommen sofort den Computer hochfährt, um seine Mails zu checken, oder den Anrufbeantworter abhört. Da wäre z. B. auch der ständige Blick auf das Handy, womit der Mangel an sozialen Beziehungen kompensiert und eine gewisse innere Unruhe zum Ausdruck gebracht wird. Oder die Konsultation von Horoskopen und Wahrsagern bei jeder, auch der unbedeutendsten Entscheidung. Das können wir alles irgendwie nachvollziehen, hängt es doch mit dem Bemühen nach Sicherheit und Halt in einer unruhigen schnelllebigen Zeit zusammen. Außerdem gewöhnen wir uns ganz schnell auch an unvernünftige Dinge und nehmen sie als normal hin, wenn sie nur von genug Artgenossen praktiziert werden.
Wie ist das aber mit Gewohnheiten und Ritualen, die nur von wenigen oder einer bestimmten Gruppe von Menschen ausgeübt werden? Nehmen wir die Installateure. Wie in schamanistischen Ritualen stehen sie bei der alljährlichen Wartung mit maskenhaftem Gesicht beschwörend vor der Gastherme, schrauben sie auf und schrauben sie wieder zu, wobei sie kopfschüttelnd und lautmalend kein gutes Haar an ihren Vorgängern lassen. Nun, auch das nehmen wir als normal hin, auch wenn wir etwas irritiert daneben stehen. Und die Rituale bei Politikern? Etwa am Wahlabend? – Auch das ist eine altgewohnte und daher für uns normale Prozedur. Obwohl gerade dieser formelhaft heruntergebetet kleine Satz »Wir haben einen guten Wahlkampf geführt!« uns eigentlich immer wieder stutzig machen müsste. Denn sollte es nicht um gute Regierungs- oder Oppositionsarbeit gehen? Fußballer sagen ja auch nicht »Wir haben uns schön die Haare gekämmt«, bevor sie sich ans Spiel machen. 

Pawlowscher Hund


 Mittlerweile weiß jeder, dass Geräusche, die mit technische Neuerungen gleich welcher Art verbunden sind, unser Denken und Verhalten beeinflussen, auch wenn sie schon lange verstummt sind. Sie kennen das: Ganz plötzlich hält der Vorder- oder Nebenmann im Bus oder Büro, auf der Straße oder in der Kneipe mitten in seiner Bewegung inne – oder in einem Gespräch, das er gerade führt, –  und spitzt die Ohren, als habe er die Engel im Himmel singen hören, obwohl nichts dergleichen zu vernehmen ist. Eine Zehntelsekunde später fängt er aus ebenso unerfindlichen Gründen an zu zucken, als sei ein Dämon in ihn hineingefahren, und hektisch, ja verzweifelt seinen Körper abzuklopfen. Frauen tun so, als horchten sie an ihren Handtaschen, bevor sie diese wie wild geworden durchwühlen. Manchmal werden diese Suchbewegungen mit Ausrufen wie »War da nicht was?« oder »Seid mal kurz still!« begleitet. Aber da war nichts, außer der alltäglichen Hintergrundgeräusche. Der kontrollierte Blick des Nebenmannes auf sein Handy, das er nun endlich hervorgekramt hat, macht es deutlich: alles nur Einbildung.
Phantomklingeln nennt man dieses Phänomen, das sich mit der Einführung des Mobiltelefons immer weiter ausbreitet. Man hört sein Telefon, obwohl es gar nicht klingelt. Es rührt daher, dass wir in unserer Wahrnehmung wie ein Pawlowscher Hund auf unseren Klingelton geeicht sind. Besonders in angespannten Situationen, wenn wir eine Nachricht oder einen Anruf erwarten, hören wir aus der Geräuschkulisse, die uns gerade umgibt, aus dem Brummen und Summen, dem Fiepen und Piepen, den Werbe-Jingels, Sound-Logos und dem Wohlfühlgedudel das heraus, was unserem Klingelton annähernd entspricht.
Eine ähnliche Art von Gehör-halluzination ist der Ohrwurm. Die Amerikaner sprechen von »Klebeliedern«, die Franzosen von »Ohrbohrern«. Gemeint sind Lieder, die in den unpassendsten Momenten in unserem Kopf auftauchen und sich für mehrere Stunden in unser Gehirn schrauben. Auch hier reicht oft schon ein einziger Ton, um die ganze Melodie in unserem Kopf entstehen zu lassen, so als ob sie gerade irgendwo in einem Radio spiele.
Akustische Halluzinationen gibt es aber auch auf einem ganz anderen Gebiet, was den Einfluss der Geräusche auf unser Denken und Handeln besonders verdeutlich. Nehmen wir an, Sie fahren täglich mit der Straßenbahn vom Hauptbahnhof zum Gautor und bei jedem Halt wird die aktuelle Haltestelle ausgerufen. »Schillerplatz-Juwelier Willenberg« hören Sie es dann jeden Tag gleich zwei Mal aus den Lautsprechern tönen. Da ist es doch kein Wunder, dass Sie jedes Mal dann, wenn Sie sich am Schillerplatz verabreden, oder wenn vom Schillerplatz die Rede ist »Juwelier Willenberg« mithalluzinieren. Das Gleiche gilt für »Münsterplatz - Kinderladen«, »Fischtor - Identity AG« oder wie die Haltestellen seit neustem alle heißen …

Mainz: Das rote Sofa, Joseph Trattner on Tour mit Hubert Neumann



Eine Stadt vom roten Sofa aus gesehen: Perspektivwechsel, skurrile Plätze und eigentümliche Begegnungen mit der Stadt und seinen Menschen.




Das verspricht ein Kunst-Happening, wenn der Wiener Künstler Josef Trattner mit seinem großen Schaumstoff-Quader anreist. In Mainz war unser Kolumnist und Autor Hubert Neumann mit von der Partie. Dessen Roman „Lusthängen" sorgte 2008 für Aufsehen und schaffte es in die Bestsellerlisten.



Vom Schaumstoff-Sofa, das später aussieht wie nachträglich hereinkopiert, ist Josef Trattner schon vor den Fotoshootings begeistert. „Denn es wirkt perfekt künstlich in seiner klaren Form", weiß er aus den Erfahrungen einiger solcher Städtetouren der Vergangenheit. Gemeinsam mit Autor Hubert Neumann trägt er das leichte und knuffige Sitz-Modell an die richtige Position im Container-Hafen, der ersten Station der städtischen Rundreise. Die richtige Position? Trattner steuert auf die Kaimauer zu und baut das Sofa direkt am äußersten Rand auf, Neumann hat keine Chance. Nur wenige Zentimeter Schaumstoff trennen ihn vom kalten Rheinwasser, etwa sechs Meter tiefer hinten unten. Doch es sitzt sich gut. Das Vertrauen in das Sofa spiegelt sich in den ersten Gesprächen mit Trattner wieder. Der plaudert mit charmantem wienerischen Einschlag von der Liebe zu seinem Material: dem Schaumstoff. Denn daraus schafft er große Gebilde und sorgt allenthalben für Verwirrung: Was soll zum Beispiel dieses Sofa, das so gar nicht hier hingehört? Darf ich Platz nehmen, es anfassen? Das Publikum, also zufällige Passanten, betrachten die „Sitzgewohnheiten" des 1955 in Wien geborenen Bildhauers argwöhnisch, belustigt und auch interessiert. So auch in Mainz. Ob in der Nähe des Bahnhofs, auf dem Rathausplateau, am Brandt oder dem Domplatz.


Perspektivwechsel. Manchmal sitzen Trattner und Neumann auf dem Sofa, dann wieder erzeugt ein darauf gestellter Spiegel für fantastische Variationen des Blickwinkels für den Betrachter. Spannend sind die Momente, wenn das Sofa abgestellt und „allein" gelassen wird. Ich finde die Frage spannend, was damit passiert: Wird darauf geliebt, gekifft oder diskutiert?", entfährt es dem Wiener, denn die Beteiligung von Passanten an der Skulptur ist erklärtes Ziel, erst dann findet der gewünschte Austausch und Aktion statt, wird die Skulptur zum abgeschlossenen Kunstwerk. Und hier wird Trattners nächstes Talent erlebbar: Seine kommunikative Ader und Entertain-Qualität. Drei junge Frauen lassen sich auf seine Anfrage auf das Experiment ein und auf das Sofa nieder. Es tut gar nicht weh. Nur das Geklicke der Fotokameras irritiert sie zunehmend. So im Fokus nehmen sie bald Reißaus.

Stadtschreiber Josef Haslinger vermittelte die Stadttour in Mainz. Eine Foto-Dokumentation des Happenings ist in der Galerie Mainzer Kunst zu sehen. Wer das Sofa on Tour zwischen Rathausdach und Stadion sehen möchte, sollte die visuelle Anregung auf dieser Seite als Vorgeschmack auf eine intensive Bilderreise in der Galerie nehmen.

Und Hubert Neumann? Der genoss schmunzelnd das „bewegte Sofaleben", die An- und Einsichten in Mainz. Als oft fotografiertes „Objekt der Begierde" tat er sich nicht immer leicht, da fehlte dann doch die Geduld und die Lust an der Extrovertiertheit mit der Person und nicht der Sprache im Mittelpunkt zu stehen. Kein wirkliches Dilemma. (Thomas Höpfner, Lokale Zeitung Mainz – www.lokalestadtausgabe.de)