Was hat es mit dem
weihnachtlichen Gefühl auf sich, dem Gefühl von Harmonie und Geborgenheit, das
in uns geweckt wird, sobald wir einen Weihnachtsmarkt betreten, obwohl
wir im geschäftigen Treiben, dem Gedrängel, Gestoße und Geschiebe besonders um die
Glühlweinstände herum nicht die geringste Spur von Harmonie finden? Hat es
vielleicht etwas mit früheren Erlebnissen auf einem Weihnachtsmarkt zu tun, die
wir als harmonisch abgespeichert haben? Das Gedächtnis schlägt einem manchmal
ja ein Schnippchen. Es ist kein statischer Aktenordner oder ein verstaubendes
Archiv. So erscheinen Erinnerungen an frühere Zeiten - zumal bei älteren
Menschen - in immer rosigeren Farben. Da waren die Ferien schöner, die Menschen
freundlicher, die Winter weißer und die Feste ausgelassener. In dieser
allgemeinen Verklärung hat man sich selbst auch als glücklicher in Erinnerung,
obgleich die Vergangenheit bei objektiver Betrachtung meist keineswegs so
heiter, problemlos und beglückend war. Umgekehrt ist es bei schwermütigen Menschen.
© Christian Kohl |
Man kann also von dem Weihnachtsmarkt
als einem Ort leerer oder zumindest erlebnisarmer Erinnerungen sprechen, einem
Ort der Illusion. Es ist wie bei den beliebten Volksmusiksendungen, in denen
Sänger in Trachtenkleidern vor einem künstlichen Bergpanorama schlagermäßig
aufbereitete Volkslieder zum Besten geben, um das Verlangen der Zuschauer nach
Geborgenheit zu befriedigen. Die Illusion wird hier wie dort durch die vielen
Kitschgegenstände noch verstärkt, die gleichsam Versatzstücke einer auf
Gefühlsduselei ausgelegten Inszenierung sind. Auf dem Weihnachtsmarkt sind es
etwa Handtücher mit Engelsbildern, Fensterbilder, Keramikwaren mit Aufdrucken
der Weihnachtsgeschichte, also Gegenstände, die einem profanen Zweck dienen,
aber primär ein religiöses Motiv darstellen oder mit einem religiösen Motiv
geschmückt sind und es herabwürdigen, oder reine Dekorationselemente, die
entweder als romantische Geschenkideen angepriesen werden, wie
Christbaumschmuck und Kerzen, oder den Weihnachtsmarkt selbst schmücken, wie
die Lichterketten, die in ihrer Gesamtheit einem Zelt nachempfunden sind, um
einen beschirmenden Sternenhimmel zu imitieren.
Der Hang nach dieser helfenden
Illusion stellt aber nichts Verwerfliches dar. Die Flucht aus der komplexen und
komplizierten Wirklichkeit ist verständlich und das Kitschbegehren, das die
Illusion von Harmonie und damit das Weihnachtsgefühl nährt, nahe liegend. Es
gilt der Satz von Hundertwasser: »Die Abwesenheit von Kitsch macht unser Leben unerträglich.«
Abdruck in: Mainzer Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft und Geschichte 4/11, S. 5ff. www.mainz-hefte.de
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