Der Kaiser ist nackt

Unschönes lässt sich oft mit schönen Worten ausdrücken. Man denke an so wohlklingende Ausdrücke wie »Entsorgungspark«, »sozialverträgliches Frühableben«, »Freistellung« oder »Minuswachstum«. Kein Wunder also, dass diese Ausdrücke bei Politikern beliebt sind, wie überhaupt bei Entscheidern jeder Art, wenn aus Motiven wie Profilierungs- und Profitdenken die eigenen Interessen ohne Gesichtsverlust durchgesetzt werden sollen; sicher auch um das schlechte Gewissen zu beruhigen. Zu diesen Ausdrücken gehört auch das schönes Wörtchen »Synergieeffekt«, das meist im Plural verwendet wird, wenn von Fusionen, Übernahmen und Schließungen die Rede ist.
© Christian Kohl
Damit Sie mich nicht falsch verstehen, ich habe nichts gegen Synergieeffekte, schließlich ist es ja gut, wenn man sich durch Zusammenarbeit gegenseitig stabilisiert oder wenn durch den Zusammenschluss zweier Firmen ein neues Unternehmen entsteht, das mehr leistet als die Summe beider Organisationen. Ich habe nur etwas gegen den falschen Gebrauch des Wortes, etwa wenn eine Organisation aus Kostengründen oder zum Nutzen der anderen zerschlagen wird. Das wäre dann nichts anderes als Demontage. Hierzu ein aktuelles Beispiel aus der Mainzer Politik: Im Rahmen der Sparmaßnahmen erwägen die Stadtväter, die Mainzer Stadtbibliothek zu schließen und die Bestände auf drei Standorte zu verteilen. Demnach käme das Stadtarchiv und Altbestände der Wissenschaftlichen Bibliothek in eine der künftig leer stehenden Grund- oder Hauptschulen, alte Handschriften etwa oder Inkunabeln ins Gutenberg-Museum und der Restbestand in die Universitätsbibliothek. Begründet wird diese Zerschlagung, denn um nichts anderes handelt es sich hier, mit jährlichen Einsparungen zwischen 1 Million und 1,5 Millionen Euro und den durch die Zusammenlegung von Stadt- und Universitätsbibliothek entstehenden Synergieeffekten. Wie aber kann man hier von Synergieeffekten sprechen, wenn es die Stadtbibliothek nicht mehr gibt und wenn  ihr Bestand, der eingefroren werden soll, in der Universitätsbibliothek aufgeht? Ist das nicht Täuschung?
Synergieeffekte könnte man erzielen, wenn man die Bibliothek beispielsweise optimal an das öffentliche Verkehrsnetz anbinden oder mit der Volkshochschule zusammenlegen würde, um etwa die Besucherfrequenz zu steigern. Das spült Geld in alle Kassen. Aber soweit denken manche Stadtväter ja nicht. Der Gestaltungswille geht ihnen leider völlig ab, auch der Sinn für Kultur und Bildung, von Tradition und Geschichte gar nicht zu sprechen. Stattdessen aalen sie sich lieber in wohlklingenden Worthülsen und schmücken ihre Stadt mit Titeln wie »Stadt des Buches« oder »Stadt der Wissenschaften«, die sich bei einer solchen Politik als publikumswirksame Placebos entpuppen. Man fühlt sich an Hans Christian Andersens Märchen »Des Kaisers neue Kleider« erinnert. Der Kaiser ist nackt. 

1 Kommentar:

  1. Sie treffen den Nagel auf den Kopf. Das gilt aber nicht nur für Mainz!

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