Sind Sie neugierig, und schauen gerne hinter die Dinge? – Nun dann verfügen Sie sicher auch über eine ausgeprägte Beobachtungsgabe. Sie waren auch gewiss schon einmal auf einem Maskenball? Dann ist Ihnen im wilden Durcheinander ohne Zweifel nicht entgangen, dass selbst das schlichteste Kostüm, das seinen Träger eigentlich verbergen sollte, nichts anderes tut, als ihn – im Gegenteil – zu verraten. Wer sich maskiert, kehrt sein Innerstes nach außen, seine geheimsten Wünsche und Hoffnungen, seine Bedürfnisse und Leidenschaften, seinen Drang nach Aufmerksamkeit wie auch nach Anpassung, kurzum der ganze Mensch steckt in der Maske.
Was für den Einzelnen gilt, gilt auch für eine ganze Stadt. Gerade hinter der Maske offenbart sie ihr wahres Gesicht. Womit wir bei der Mainzer Fastnacht wären. In den unterschiedlichsten Handlungen und Ereignissen, die sich zu einem ausgelassenen und bunten Treiben verknüpfen, stülpt sie eine ganze Maske über Jung und Alt. Kein Mainzer kann sich dem entziehen. Die Fastnacht drückt ihm ihren Stempel auf und webt sich Jahr für Jahr in seine Denk- und Lebensart hinein.
Was aber verrät sie über den Mainzer an sich? Zunächst einmal, dass er ein einfallsreiches und erfinderisches Wesen ist; er ist kreativ, wie man im Marketingdeutschen so schön sagt, was während der Fastnacht aber kein bloßes Lippenbekenntnis ist. Denn er muss aus einer unendlichen Vielzahl an Möglichkeiten ein Kostüm auswählen oder zusammenbasteln, das seinen Anforderungen und Wünschen entspricht, wenn er nicht gerade zu einer Garde oder einem Fastnachtsverein gehört. Nicht selten kommt es dabei zu kuriosen Entscheidungen: Da verwandelt sich der brave Biedermann plötzlich in einen Schurken, der Umweltsünder in eine zarte Blume, der Harz-IV-Empfänger in einen Firmenboss und der Prüde in einen ungenierten Frauenheld. Männer werden zu Frauen und Frauen zu Männern. Das macht den Mainzer mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Denk- und Verhaltensmustern vertraut und erlaubt ihm die Einnahme eines Standpunktes jenseits des gewöhnlichen Lebens und gelegentlich auch jenseits der Logik. Darüber hinaus übt es ihn ein in Flexibilität und Toleranz.
Damit aber nicht genug: Die Fastnacht weist ihn obendrein als ausgesprochenes Zoon politikon aus. Denken wir an die Fastnachtsitzungen – wahre Schulen der Demokratie. Natürlich auch die Fastnachtsumzüge. Mit ihren Fahnen und Figuren, ihren Parolen und Symbolen gleichen sie politischen Demonstrationen und Massenkundgebungen. Hinter der Maske des Narren nimmt der Mainzer kein Blatt vor den Mund. In den Fastnachtssitzungen, die Parlamentsdebatten und Gerichtsverhandlungen parodieren, übt er sich darin, coram publico große Reden zu schwingen, ohne auch nur einzige Pointe auszulassen. Ja, der Mainzer ist redegewandt. Da fällt es nicht ins Gewicht, wenn seine Rede mit vernachlässigenswerten Obszönitäten gespickt ist, selbst in der Gestik, was ein klein wenig an den Südländer erinnert. Das Pathos ist dem Mainzer ebenso fremd wie die verdruckste Betroffenheit. In der Bütt legt er den Finger in die Wunde und nimmt jegliche Missstände aufs Korn, besonders aber die kleinen menschlichen Schwächen, über deren Verspottung er häufig sogar sein ewigwährendes Lamento über die hohen Steuern und die große Politik vergisst.
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© Karin -Anne Beckers |
All das spiegelt sich auch in der besonderen Art seines Humors wider, den der Mainzer sich von Kampagne zu Kampagne antrainiert hat, und der von Fremden mitunter als sehr daneben, aber als äußerst lustig wahrgenommen wird. Wodurch er seinem Leben ungeachtet aller Erschwernisse und Erschütterungen komische Seiten abgewinnen und den kleinen und großen Katastrophen des Alltags mit einem Lachen begegnen kann. Sein Lachen gibt ihm die Gewissheit, jede nur erdenkliche Situation, sei es eine Finanz- oder Wirtschaftskrise, bewältigen zu können, indem es das Schreckliche herabmindert.
Der Mainzer lacht an Fastnacht über alles, besonders aber über das Hochstehende, das Ideelle und Abstrakte, er holt es damit herunter in den Bereich des Banalen. Für große revolutionäre Ideen ist er daher nicht zu begeistern. »Dess sinn doch alles Färz!«, wird er hierauf lapidar entgegnen, oder einfach nur »Kokolores«. Für Nichtmainzer werden solche Kommentare immer wieder als Zeichen seiner Behäbigkeit und Unfreundlichkeit gedeutet, obwohl sie eigentlich nichts anderes als Bodenständigkeit zum Ausdruck bringen wollen, die Dinge und sich selbst nicht immer allzu ernst zu nehmen. Das Lachen macht seinen Kopf frei, nimmt ihm den Druck und lässt ihn in Gleichmut der Dinge harren, die da kommen werden. «Heile, heile Gänsje. Es wird bald widder gut…«
Der Mainzer lacht an Fastnacht aber nicht allein, sondern mit jedem, der auch nur in seine Nähe kommt. Fastnacht ist das Fest der Entgrenzung und der Integration. Was allein schon die Frage, »Wolle mer se roilosse« zum Ausdruck bringt, die bislang wahrscheinlich noch nie mit einem »Nein« beantwortet wurde. Im alkoholgeschwängerten Dunst der vielen Leiber gibt es keine Schranken und Hierarchien mehr, die Distanz ist aufgehoben. Singend, tanzend und klatschend hört der Mainzer auf, er selbst zu sein, um zu einem untrennbaren Teil des Ganzen zu werden, wenn auch manchmal nur für einige Sekunden. Dieses ekstatische Erlebnis festigt das Zusammengehörigkeitsgefühl auch außerhalb der Fastnacht und gebiert den typisch Mainzer Teamgeist, wie er sich etwa in der Fankultur von Mainz05 zeigt, wo es immer wieder zu neuem Leben erweckt wird. Nicht umsonst skandieren die Fans: »Wir sind nur ein Karnevalsverein!« Der Mainzer Fußball ist damit sozusagen die Fortsetzung der Fastnacht mit anderen Mitteln.
Und so können wir beinahe endlos fortfahren. Klar wird schon jetzt, dass dieser periodisch wiederkehrende Exzess Eigenschaften hervorbringt, die den Mainzer zu höheren Weihen befähigt, und zwar nicht nur im Fußball.
Die Gleichartigkeit von Politik und Fastnacht liegt auf der Hand. Beides durchdringt sich sogar. Allerdings bislang nur auf lokaler Ebene. Der Mainzer bleibt hier weit hinter seinen Fähigkeiten zurück. Was hindert ihn daran, Kanzler oder Präsident zu werden? Dank der Fastnacht ist er redegewandt, sitzungs- und gremienerfahren, er verfügt über Krisenbewältigungskompetenz, er kann organisieren, mobilisieren und nicht zuletzt Seilschaften knüpfen. Und soll einer sagen, er hätte keine Ausstrahlung! Man braucht sich nur die Fernsehsitzung anzusehen. Wie es hier funkelt und blitzt. Und dann die Einschaltquote! Viel höher als bei jeder Haushaltsdebatte im Bundestag.
Die Krisenbewältigungskompetenz, die der Mainzer in seinem Lachen unter Beweis stellt, ist nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft sehr gefragt. Das gilt ebenso für seine Kreativität, seine Flexibilität, seine Team- und Integrationsfähigkeit und Eigeninitiative. Alles Fähigkeiten, über die Führungskräfte verfügen sollen, und die durch teure Managementtrainings eingeübt werden, sei es, dass sich die High Potentials, wie man die Anwärter auf Führungspositionen nennt, einen Berg hinunterstürzen, oder einen Eierlauf absolvieren. Angesichts dieses Unfugs ist man leicht versucht zu sagen: Ja, dann schickt sie doch zur Mainzer Fastnacht ins Trainingscamp. Das ist billiger und allseits bewährt. Oder rekrutiert eure Führungskräfte doch gleich alle aus Mainz. In diesem Sinne ein dreifach donnerndes Helau!
Abdruck in: Mainzer Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft und Geschichte 1/11, S. 5ff. www.mainz-hefte.de